Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
nicht mehr bewegen konnte. Verzweifelt sah ich mich nach Memnoch um.
Da war er, dicht neben mir, und beobachtete das Treiben ganz ruhig. Euer inmitten der lehmfarbenen, schmutzbefleckten Menschen, dieser alltäglichen Geschöpfe einer vergangenen, rauheren Zeit, strahlten wir keinerlei übernatürlichen Glanz aus.
»Ich will das alles gar nicht!« rief ich störrisch in dem Versuch, mich zu verweigern, während die Menge mich mit sich riß. »Ich glaube, ich kann das nicht! Ich kann nicht zusehen, Memnoch, das kann keiner von mir verlangen. Nein … ich will das nicht weiter mitmachen. Memnoch, laß mich hier raus!«
»Ruhig«, sagte er streng. »Wir haben fast die Stelle erreicht, an der Er vorbeikommt.«
Den rechten Arm schützend um mich gelegt, teilte er - scheinbar mühelos - die Menschenmasse vor uns, bis wir eine breite Hauptstraße erreichten. Wir standen zwischen den Leuten in der ersten Reihe, als die Prozession herannahte. Das Geschrei wurde ohrenbetäubend. Römische Soldaten marschierten voran, die Uniformen von Sand verkrustet, die Gesichter müde, fast gelangweilt, trübsinnig. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, warf eine schöne Frau, deren Haar mit einem langen, weißen Schleier bedeckt war, die Arme in die Luft und schrie gellend auf.
Sie hielt ihren Blick auf den Sohn Gottes gerichtet. Er war gerade in Sichtweite gekommen. Zuerst sah ich den schweren Querbalken des Kreuzes, der über Seine Schultern hinausragte, dann Seine Hände, an den Balken gebunden, die schon von Blut trieften. Sein Kopf hing herab, das braune Haar war stumpf und verfilzt und bedeckt mit der barbarischen schwarzen Krone aus harten Domen. Die Zuschauer rechts und links verspotteten ihn oder waren ganz still. Von den nahen Mauern wehte beißender Uringestank heran.
Er hatte kaum genug Raum, mit Seiner Last voranzukommen. Sein Gewand war zerfetzt, die Knie zerschunden und blutig, dennoch schleppte er sich vorwärts. Das Gesicht abgewandt, torkelte Er auf uns zu, dann fiel Er, die Straßensteine bohrten sich in Seine Knie. Männer hinter Ihm trugen den langen Balken des Kreuzes, der bald in den Boden gerammt werden würde.
Die Soldaten rissen Ihn sofort wieder hoch und brachten den Balken auf Seinen Schultern ins Gleichgewicht. Nun sah ich Sein Gesicht, keine drei Fuß entfernt. Verbrannt, hohlwangig, der zitternde Mund geöffnet, die dunklen Augen weit aufgerissen, sah Er uns an, ausdruckslos, kein flehender Blick. Das Blut aus Seiner von Dornen zerstochenen Stirn floß in dünnen Rinnsalen über Augen und Wangen bis auf die nackte Brust, die die zerrissenen Lumpen Seines Gewandes freigaben, sie war bedeckt mit geschwollenen roten Striemen von Peitschenhieben!
»Mein Gott!« Wieder ging mir alle Willenskraft verloren. Memnoch hielt mich aufrecht, während wir beide in Gottes Antlitz starrten. Und das Volk, das schrie und kreischte und fluchte in einem fort und schob sich unaufhaltsam weiter. Kleine Kinder gafften, Frauen jammerten; manche lachten. Eine große, gräßliche, stinkende Menge unter der gnadenlosen Sonne, die auf die uringetränkten Mauern brannte!
Erkannte Er uns? Schmerzensschauer schüttelten ihn. Er keuchte, als ersticke Er, und ich sah, daß dort, wo der Balken scheuerte, der Stoff auf Seinen Schultern mit Blut getränkt war. Er konnte sich kaum noch aufrecht halten, dennoch stießen sie Ihn vorwärts, und dann war Er direkt vor uns, die Augen niedergeschlagen, das Gesicht naß von Blut und Schweiß. Langsam wandte Er sich mir zu.
Ich weinte hemmungslos. Was sah ich hier mit an? Eine Brutalität, wie sie nie und nirgends scheußlicher gewesen war, und die Legenden und Gebete meiner Kindheit kamen mir mit bizarrer Lebendigkeit in den Sinn. Und - ich konnte tatsächlich das Blut riechen. Der Vampir in mir roch es. Ich hörte mein eigenes Schluchzen, ich streckte die Arme aus. »Mein Gott!«
Die Welt verstummte um mich. Leute schrien und stießen, doch nicht in der Welt, in der wir uns befanden. Die Zeit stand still und in ihr die Erfüllung und die Todesqual dieses Augenblicks. Er starrte mich und Memnoch an.
»Lestat«, flüsterte er mit so matter, gebrochener Stimme, daß ich sie kaum vernehmen konnte. »Du willst es schmecken, nicht wahr?«
»Herr, was sagst Du da?« schrie ich, die Stimme von Tränen erstickt.
»Das Blut. Koste es. Koste das Blut Christi.« Und ein schreckliches, resigniertes Lächeln, einer Grimasse gleich, zeigte sich auf Seinem Gesicht. Sein Körper krümmte sich unter
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