Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
dem schweren Balken, frisches Blut lief über Sein Gesicht, als drückten sich die Domen mit jedem Atemzug tiefer in Sein Fleisch, und die Striemen auf Seiner Brust schienen zu platzen, da Blut aus ihnen hervorquoll.
»Nein, mein Gott«, schrie ich und griff nach ihm, spürte unter meinen Händen Seine zerbrechlichen, an den riesigen Balken gebundenen Arme, diese schmerzenden, dürren Arme unter dem zerrissenen Stoff, und ich war wie gebannt von dem Blut.
»Das Blut Gottes, Lestat«, hauchte er. »Erinnere dich all des menschlichen Blutes, das über deine Lippen floß. Ist mein Blut dessen nicht würdig? Fürchtest du dich?«
Schluchzend legte ich die Hände um Seinen Nacken, der Balken drückte gegen meine Knöchel, ich küßte Seine Kehle, mein Mund öffnete sich, willenlos, widerstandslos, und meine Zähne durchbrachen das Fleisch.
Ich hörte Ihn stöhnen, ein langanhaltendes, hallendes Seufzen, das anschwoll und die Welt zu erfüllen schien, und das Blut ergoß sich in meinen Mund.
Das Kreuz, die Nägel, durch Seine Handgelenke getrieben - nicht durch die Hände -, Sein Körper, der sich drehte und wand, als wolle Er in letzter Sekunde entkommen. Sein Kopf, heftig gegen den Balken gestoßen, so daß die Dornen sich in den Schädel bohrten, und dann die Nägel für die Füße. Seine Augen verdreht, dann das Dröhnen, das Dröhnen des Hammers; und das Licht, das unermeßliche Licht, das aufstieg, so wie es sich über der himmlischen Balustrade erhoben hatte; und es erfüllte die Welt und überstrahlte selbst den warmen, üppigen, köstlichen Fluß seines Blutes, das ich in mich aufnahm. Unvermittelt und geräuschlos zog sich das Licht zusammen und formte einen Tunnel oder Pfad, und ich wußte, dieser Pfad führte geradewegs von der Erde zum Licht.
Schmerz! Das Licht verschwand. Die Trennung war unerträglich! Ein harter Schlag traf meinen Körper mit voller Wucht. Ich wurde in die Menschenmenge zurückgeschleudert. Sand stach mir in die Augen. Geschrei brandete um mich herum auf. Ich spürte das Blut auf meiner Zunge. Es tropfte von meinen Lippen. Mit erstickender Glut stürzte die Zeit wieder auf mich ein. Und Er stand vor uns, starrte uns an, und Tränen flössen aus Seinen Augen, mischten sich mit dem Blut, das schon Sein Gesicht bedeckte.
»Mein Gott, Mein Gott, Mein Gott!« Weinend schluckte ich die letzten Tropfen seines Blutes; ich schluchzte.
Die Frau von gegenüber tauchte plötzlich in meinem Gesichtsfeld auf. Ihre Stimme übertönte das Gekreische und die Flüche, diese gräßliche Kakophonie rüder, gefühlloser Keifereien von Zuschauern, die um gute Plätze zum Gaffen kämpften.
»Mein Gott!« schrie sie mit trompetengleicher Stimme und trat Ihm in den Weg. Sie blieb vor Ihm stehen und zog den feinen weißen Schleier von ihrem Haar, mit beiden Händen hielt sie ihn vor Sein Gesicht.
»Herr, Gott, ich bin Veronika«, rief sie. »Erinnere Dich, Veronika. Zwölf Jahre litt ich unter Blutfluß, doch als ich den Saum Deines Gewandes berührte, war ich geheilt.«
»Unrein! Unflat!« ertönten Rufe.
»Gesetzesbrecher, Gotteslästerer!«
»Sohn Gottes, wage es nur!«
»Unrein, unrein, unrein!«
Das Geschrei Rasender. Leute griffen nach ihr, schienen jedoch voller Widerwillen, sie wirklich zu berühren. Man warf mit Kieseln und Steinen nach ihr. Die Soldaten waren unentschlossen, verblüfft, aber aggressiv.
Doch Gott, der im Fleische erstandene Gott, die Schultern gebeugt unter dem Balken, sah sie nur an, und dann sagte Er: »Ja, Veronika, sachte, nimm den Schleier, meine Liebe, deinen Schleier.«
Sie breitete das jungfräulich weiße Gewebe trostreich, lindernd über sein Gesicht, um den Schweiß, das Blut abzutupfen. Für einen kurzen Moment zeichnete sich sein Profil deutlich unter dem Tuch ab, und dann, als sie sein Gesicht vorsichtig abtupfen wollte, zogen die Soldaten sie fort, und sie stand da, den Schleier in ihren erhobenen Händen, so daß jeder ihn sehen konnte.
Auf dem Tuch war Sein Antlitz!
»Memnoch, sieh!« rief ich. »Sieh doch den Schleier der Veronika! Das Schweißtuch!«
Das Antlitz hatte sich makellos auf dem Tuch abgebildet, perfekt wie ein Siegelabdruck, wie kein Maler es hätte wiedergeben können; als habe der Schleier, wie eine moderne Kamera, ein vollkommenes Bild vom Antlitz Christi gemacht. Nur ungleich lebendiger, denn Haut schien wie eine dünne Folie auf dem Abbild zu liegen, das Blut darauf war Blut, die Augen hatten sich wie Duplikate in das Tuch gebrannt,
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