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Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel

Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel

Titel: Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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und auch die Lippen hatten ihren hautfarbenen Abdruck hinterlassen.
    Jeder im Umkreis sah die Ähnlichkeit. Die Leute schubsten und stießen uns, um es näher zu sehen. Geschrei erhob sich.
    Die Hand Christi löste sich aus dem Strick, der sie an den Kreuzbalken band, und griff nach dem Tuch in Veronikas Hand; sie fiel weinend auf die Knie, die Hände vor das Gesicht geschlagen. Die Soldaten waren bestürzt und irritiert, stießen das Volk mit den Ellbogen zurück und knurrten die Drängelnden wütend an.
    Christus wandte sich mir zu und reichte mir den Schleier. »Nimm ihn, bewahre ihn! Nimm ihn mit dir fort und verberge ihn!« keuchte Er.
    Ich umklammerte den Stoff, voller Furcht, ich könnte ihn beschädigen oder das Abbild verwischen. Hände streckten sich aus, griffen danach. Ich drückte ihn fest an meine Brust.
    »Er hat den Schleier«, schrie jemand. Ich wurde zurückgestoßen.
    »Her mit dem Schleier!« Ein Arm mühte sich, ihn mir zu entreißen.
    Leute stürzten sich auf uns, doch die, die plötzlich hinter uns nachdrängten, um das Spektakel besser sehen zu können, versperrten ihnen den Weg und stießen uns unbeabsichtigt an den ändern vorbei. Der Druck der Masse schob uns weiter, wir taumelten zwischen den schmutzstarrenden, zerlumpten Körpern umher, um uns herum ohrenbetäubendes Getöse, Kreischen und Flüchen.
    Die Prozession war schon außer Sichtweite; die Rufe nach »dem Schleier« wurden mit zunehmender Entfernung schwächer. Ich faltete ihn klein zusammen, drehte mich um und rannte los. Ich wußte nicht, ob Memnoch mir folgte, auch nicht, wohin ich lief. Ich hastete einfach nur durch die engen Gassen. Menschen strömten, ohne mich zu beachten, an mir vorüber, entweder gingen sie zur Kreuzigung oder einfach nur ihren gewohnten Weg.
    Meine Füße waren wund und aufgerissen, meine Lungen brannten vom Laufen. Wieder schmeckte ich Sein Blut, sah in einem blendenden Blitz das Licht. Halbblind umklammerte ich das Tuch,, schob es unter mein Gewand an meine Brust, wo ich es fest an mich preßte. Keiner würde es bekommen. Keiner.
    Ein entsetzliches Wimmern kam über meine Lippen. Ich blickte auf. Der Himmel wankte; der blaue Himmel über Jerusalem, die mit Sand gesättigte Luft, alles wankte: Ein Wirbelwind hatte mich in seinem gnädigen Griff. Das Blut Christi sank in meine Brust, in mein Herz, durchströmte mein Herz und erfüllte meine Augen mit seinem Licht.
    Der Wirbel trug mich in aller Stille mit sich. Ich mußte meine ganze Willenskraft aufbieten, um an mir herunterzuschauen, in mein Gewand zu greifen, das kein Gewand mehr war, sondern wieder Jacke und Hemd - der Anzug, den ich schon im New Yorker Schnee getragen hatte -, und unter dem Stoff meiner Weste, auf dem Hemd, ertastete ich den zusammengelegten Schleier! Der Wind schien ihn mir aus der Kleidung zerren zu wollen, schien mir die Haare vom Kopf zu reißen. Doch ich preßte die Hände fest auf das Tuch, hielt es sicher an meinem Herzen.
    Von der Erde stieg Rauch auf. Wieder Geschrei und Weinen. Klang das schrecklicher als das um Christus auf der Straße zum Kalvarienberg?
    Mit einem harten, schmetternden Aufprall krachte ich gegen eine Wand, auf einen Fußboden. Pferde rasten vorbei, ihre Hufe schlugen Funken auf dem Gestein und verfehlten meinen Kopf nur knapp. Eine sterbende Frau lag vor mir, offensichtlich war ihr Genick gebrochen, Blut strömte aus Nase und Ohren. Menschen flohen in alle Himmelsrichtungen. Und wieder der Geruch nach Exkrementen und Blut.
    Hier war eine Stadt im Kriegszustand, plündernde Soldaten zerrten unschuldige Menschen unter Torbögen hervor, Schreie hallten wider aus endlosen Gewölben. Flammen waren so nah, daß sie mein Haar ansengten.
    »Der Schleier, der Schleier«, sagte ich mir und tastete mit der Hand danach - er war immer noch sicher versteckt zwischen Weste und Hemd. Ein Soldat trat hart gegen meine Schläfe und warf mich rückwärts auf das Pflaster.
    Ich sah um mich und fand mich keineswegs auf einer Straße, sondern in einer riesigen, kuppelüberwölbten Kirche wieder, mit Galerien aus romanischen Bögen und Säulen. Rings um mich her, inmitten glitzernder, goldener Mosaiken, wurden Männer und Frauen abgeschlachtet, und Pferde trampelten über sie hinweg. Der Körper eines Kindes prallte gegen die Wand über mir, der Schädel brach, und es fiel mit seinen kleinen Gliedern wie Abfall vor meinen Füßen nieder. Berittene hieben mit Breitschwertern nach den Flüchtenden, hackten in Schultern und Arme.

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