Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
aus… aus derart simplen Motiven heraus. Er war einfach… er lief mir über den Weg. Es war ein gräßlicher Irrtum. Aber hinterher ist er zu mir gekommen, Dora, wir haben stundenlang miteinander geredet, sein Geist und ich. Er hat mir alles über dich erzählt und über seine Reliquien und über Wynken.«
»Wynken?« Sie sah mich an.
»Ja, Wynken de Wilde, weißt du nicht? Die zwölf Bücher. Sag mal, Dora, könnte ich deine Hand halten? Ich möchte versuchen, dich zu trösten, vielleicht gelingt mir das. Aber ich will nicht riskieren, daß du schreist.«
»Warum hast du meinen Vater getötet?« fragte sie. Aber sie meinte etwas anderes. Eigentlich fragte sie: »Warum hat jemand, der so spricht wie du jetzt, so etwas getan?«
»Ich wollte sein Blut. Davon ernähre ich mich, vom Blut der Menschen. Damit bleibe ich lebendig und jung. Glaubst du, daß es Engel gibt? Dann mußt du auch glauben, daß es Vampire gibt. Daß es mich gibt. Es gibt schlimmere Dinge auf der Welt.«
Sie war gehörig verdutzt.
»Nosferatu«, sagte ich sanft. »Verdilak, Vampire, Lamia. Alle irdisch.« Kopfschüttelnd hob ich die Schultern, ich fühlte mich so hilflos. »Es gibt aber auch andere Spezies. Roger kam mit seiner Seele, er kam als Geist, weil er mit mir reden wollte. Deinetwegen.«
Ein Zittern schüttelte sie, und sie begann zu weinen. Aber es war nicht Wahnsinn, sondern Kummer, der die Tränen fließen ließ und ihr Gesicht verzerrte.
»Dora, ich will dich nicht kränken, um nichts in der Welt, ich schwöre es. Ich will dir nicht weh tun…«
»Mein Vater ist wirklich tot, nicht wahr?« fragte sie, und plötzlich brach sie schluchzend zusammen, ihre schmalen Schultern zuckten, und sie vergrub das Gesicht in den Händen.
»Mein Gott, hilf mir, o Gott«, flüsterte sie und unter Tränen: »Roger! Roger!« Unvermittelt schlug sie tatsächlich ein Kreuz, saß von Weinkrämpfen gepackt da, jedoch ohne Furcht.
Ich wartete ab. Schmerz und Kummer zehrten an ihr, ließen sie immer elender werden, schließlich sank sie vornübergebeugt auf den Dielen zusammen. Aber noch immer keine Angst. Als sei ich überhaupt nicht vorhanden.
Sehr langsam schlüpfte ich aus meiner Ecke. War einem das erst gelungen, konnte man durchaus aufrecht stehen. Ich glitt hinter sie und faßte sie ganz zart bei den Schultern. Sie wehrte sich nicht, wimmerte nur in einem fort, und ihr Kopf pendelte hin und her.
Wie um nach etwas zu greifen, bewegte sie die Hände, und wieder weinte sie laut: »Oh, Gott, oh, Gott! Roger!«
Ich hob sie hoch. Sie war wirklich so leicht, wie ich vermutet hatte, aber ihr Gewicht spielte sowieso keine Rolle für jemanden mit meiner Kraft.
»Ich wußte es. Als er mich küßte, wußte ich es.« Vor lauter Schluchzen verstand ich sie kaum. »Ich wußte, ich würde ihn nie wiedersehen, ich wußte es …«
Sie ließ sich gegen meine Brust fallen, und ich zog sie mit mir aus dem Bodenraum. Ich mußte wirklich sehr vorsichtig sein, so zerbrechlich und zart, wie sie war, und als ihr Kopf nach hinten fiel, zeigte ihr Gesicht eine solche Hilflosigkeit und Blässe, daß es den Teufel hätte erbarmen können.
Auf dem Weg zu ihrem Zimmer lag sie ohne Widerstand an mich gelehnt, schlaff wie eine Stoffpuppe.
Wärme drang aus ihrer Wohnung. Ich stieß die Tür auf. Der Raum - ein sehr großes Eckzimmer - schien einst ein Klassenzimmer oder ein Schlafraum gewesen zu sein, mit zahlreichen Fenstern an zwei Seiten, durch die das helle Licht der Straßenlampen und der vorbeifahrenden Autos hereinfiel. An der hinteren Wand stand ihr Bett, ein altes, sehr schlichtes schmales Eisengestell, das vielleicht früher zum Kloster gehört hatte, mit einem hohen rechteckigen Rahmen, der ursprünglich für ein Moskitonetz bestimmt war. Das Netz fehlte jetzt, und die weiße Farbe blätterte von den dünnen Eisenstäben. Das Zimmer war vollgestellt mit Bücherschränken, Bücher lagen in Stapeln herum, aufgeschlagen, mit Lesezeichen versehen, auf Buchstützen abgelegt; und überall sah ich ihre eigenen Kunstwerke, Dutzende von Bildern, Statuen, vielleicht sogar Dinge, die Roger ihr geschenkt hatte, ehe sie die Wahrheit erfuhr. Auf alle Türen und Fensterrahmen hatte sie mit dicker schwarzer Tinte Worte geschrieben.
Ich brachte Dora zu ihrem Bett und legte sie nieder. Dankbar, schien mir, sank sie auf das Bettzeug, das auf eine neuzeitliche Art sauber und frisch war und beinahe wie neu wirkte durch das fortwährende sorgfältige Bügeln und Waschen.
Ich
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