Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
angestarrt hatte. Da muß ich sehr klein gewesen sein. Als ich dann fünfzehn war, verführte ich dort hinten in der alten Kirche die Dorfmädchen - schon für die damalige Zeit war ich wohl eine Art Ungeheuer, aber andererseits wurden in unserem Dorf vom Sohn des Schloßherrn Unzüchtigkeiten mehr oder weniger erwartet. Das war einfach so. Und meine Brüder, dieser konservative Haufen, waren für die dörfliche Mythenbildung sowieso schon enttäuschend gewesen, so brav, wie sie sich immer verhielten. Es war schon ein Wunder, daß die Fruchtbarkeit der Felder nicht unter ihrer erbärmlichen Tugendhaftigkeit gelitten hatte. Ich lächelte. Mein Verhalten hatte das mit Sicherheit wieder wettgemacht.
Doch als ich staunend dieses Kruzifix betrachtet hatte, war ich wohl nicht älter als sechs oder sieben gewesen. Und ich hatte gesagt:
»Was für ein gräßlicher Tod!« Es war einfach so aus mir herausgeplatzt, so daß meine Mutter lauthals gelacht und mein Vater sich sehr geschämt hatte!
Von der Napoleon Avenue klangen leise die vertrauten Geräusche des Straßenverkehrs herauf. Ich hörte Dora seufzen. Dann spürte ich, nur für eine Sekunde, ihre Hand auf meinem Arm, fest, aber zart, als sie versuchte, durch die schützende Kleidung hindurch die Beschaffenheit meiner Haut zu ertasten.
Ihre Finger streiften über mein Gesicht.
Ich weiß nicht, warum, aber wenn Sterbliche sich unserer Existenz versichern wollen, machen sie es so, daß sie mit der Außenseite ihrer Fingerknöchel über unsere Wangen streichen. Kann man so die Berührung unpersönlich erscheinen lassen? Ich vermute, die Berührung mit der Handfläche, den empfindlichen Fingerkuppen, ist zu vertraulich.
Ich hielt still und ließ sie gewähren, als sei sie blind und als täte ich es aus Gefälligkeit. Ihre Hände glitten zu meinem Haar. Mir war bewußt, daß das Licht ausreichte, um es wunderschön aussehen zu lassen. Unverschämt eitel und eingebildet, selbstsüchtig, verwirrt und zeitweise irregeleitet, wie ich war, rechnete ich nachgerade damit.
Wieder machte sie das Kreuzzeichen, obwohl sie keine Angst verspürte. Ich glaube, sie wollte sich damit etwas bestätigen. Obwohl, bei genauerer Überlegung, was stand denn noch in Frage? Sie betete stumm.
»Das kann ich auch«, sagte ich. »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.« Dann wiederholte ich das Ganze auf latein.
Sie betrachtete mich verwundert, dann entschlüpfte ihr ein leises, freundliches Lachen.
Ich lächelte zurück. Bett und Stuhl - auf denen wir so dicht beieinander saßen standen in einer Ecke des Raumes, und hinter uns war an jeder Wand ein Fenster. Fenster, nichts als Fenster, dies war ein Palast aus Fenstern und erst gut vier Meter über uns das dunkle Holz der Decke. Diese Ausmaße fand ich verehrungswürdig. Man könnte sagen, das alles wirkte sehr europäisch, diesem Gebäude überaus angemessen. Nichts war modernen Raumvorstellungen geopfert worden.
»Weißt du«, sagte ich, »als ich das erste Mal Notre-Dame betreten habe, nachdem ich zum Vampir gemacht worden war - und nebenbei gesagt, ich habe mir das nicht ausgesucht; ich war vollkommen menschlich und jünger als du jetzt; ich bin dazu gezwungen worden und kann mich nicht genau daran erinnern, ob ich gebetet habe, als es geschah, aber dagegen gekämpft habe ich, das ist noch total lebendig in meiner Erinnerung, und ich habe es auch schriftlich niedergelegt. Aber… wie ich schon sagte, als ich danach das erste Mal Notre-Dame betrat, dachte ich, nun, warum erschlägt Gott mich nicht?«
»Du mußt deinen Platz in der Ordnung der Dinge haben.«
»Meinst du? Daran glaubst du tatsächlich?«
»Ja. Ich habe niemals erwartet, etwas wie dich von Angesicht zu Angesicht zu sehen, aber für unmöglich oder unwahrscheinlich habe ich es nie gehalten. All die Jahre habe ich auf ein Zeichen, eine Bestätigung gewartet. Natürlich hätte ich mein Leben auch ohne das gelebt, aber immer war dieses Gefühl da… daß es kommen müßte, dieses Zeichen.«
Ihre Stimme war hell und sehr feminin, aber sie sprach mit erstaunlicher Selbstsicherheit, so daß ihre Worte Autorität auszustrahlen schienen, als redete ein Mann.
»Und nun kommst du mit der Nachricht, daß du meinen Vater getötet hast. Und du behauptest, daß er hinterher mit dir sprach. Nein, ich bin nicht der Typ, das so einfach von der Hand zu weisen. Was du da sagst, klingt zu verführerisch, es hat das gewisse Etwas. Weißt du was? Aus dem gleichen
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