Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
oder andere Stufe und erreichte den zweiten Stock, blieb dann an der Biegung des Geländers plötzlich stehen und wandte sich in meine Richtung. Sie konnte mich bei dieser Beleuchtung unmöglich sehen. Und doch kam sie auf mich zu. Sie streckte die Hand aus, ihre weißen Finger berührten etwas - einen Lichtschalter. Ein schlichter plastikgefaßter Schalter - und von der Deckenbirne ergoß sich eine Lichtflut.
Stellen Sie sich vor: Da ist dieser blondhaarige, männliche Eindringling, die Augen hinter den violetten Gläsern der Sonnenbrille verborgen, inzwischen wieder hübsch sauber, das Blut ihres Vaters abgewaschen, in schwarze Schurwolle gekleidet.
Ich hob die Hände in einer Geste, die besagen sollte: »Ich werde Ihnen nichts tun!« Ansonsten war ich sprachlos!
Ich verschwand.
Was bedeutet, ich bewegte mich so schnell, daß sie es nicht wahrnehmen konnte; wie ein Luftzug strich ich an ihr vorbei. Das war’s. Ich sauste durch das Treppenhaus hinauf, erreichte einen Dachboden und schlüpfte durch eine offene Tür in die dunkle Nische oberhalb der Kapelle, wo nur einige Dachfenster einen winzigen Lichtstrahl von der Straße hereinließen. Eins der Fenster war zerbrochen. Das war vielleicht der schnellste Weg, sich davonzumachen. Doch ich blieb. Mit angezogenen Knien hockte ich mich ganz still in eine Ecke, schob die Brille über die Stirn hinauf und behielt quer durch den Raum die Tür im Auge, durch die ich gekommen war.
Ich hörte nichts; keine Schreie, kein hysterisches Gekreisch. Sie rannte auch nicht in Panik durch das Haus oder alarmierte die Polizei. Obwohl sie diesen männlichen Eindringling gesehen hatte, war sie furchtlos und ruhig. Also, ich meine, was um alles in der Welt - von einem Vampir einmal abgesehen - ist gefährlicher für eine alleinlebende Frau als ein sterblicher junger Mann?
Mir klapperten tatsächlich die Zähne. Ich schlug mit der zur Faust geballten Rechten in meine linke Handfläche. Teufel, Mann, wer zur Hölle war das, daß er mich erwartete, mir sagte, ich sollte Dora in Ruhe lassen. Was waren das für Tricks? Roger, was zum Teufel soll ich jetzt tun? Ich hatte nie vorgehabt, mich ihr so zu zeigen!
Nie, niemals hätte ich ohne David herkommen dürfen. Ich benötigte einen Zeugen, der mir den Rücken stärkte. Und der Unauffällige - hätte er in Davids Gegenwart überhaupt gewagt, sich zu nahem? Wie ich ihn verabscheute! Wie in einem Strudel fühlte ich mich! Ich würde das nicht überstehen. Und was bedeutete das? Was würde mich denn töten?
In diesem Moment wurde mir klar, daß sie die Treppe heraufkam, dieses Mal jedoch langsam und sehr leise. Ein Sterblicher hätte es gar nicht wahrgenommen. Sie hatte ihre Taschenlampe dabei; das war mir vorhin nicht aufgefallen. Aber jetzt glitt der Lichtstrahl durch die geöffnete Speichertür und dann an der Dachschräge entlang. Sie betrat den Raum, knipste die Lampe aus und sah sich vorsichtig um, das von draußen durch die Rundbogenfenster einfallende Licht fing sich in ihren Augen. Und dann, als sie direkt in meine Richtung blickte, entdeckte sie mich in meiner Ecke.
»Warum hast du Angst?« fragte sie mich in einem Ton, als wolle sie mich beruhigen.
Ich wußte, daß ich in dieser Ecke ziemlich eingeklemmt war - die Füße über Kreuz, die Arme um die hochgezogenen Knie geschlungen, so sah ich zu ihr auf.
»Ich… ich… es tut mir leid«, sagte ich. »Ich fürchtete, ich hätte Sie verängstigt, und war beschämt, daß ich Ihnen Kummer gemacht hatte. Ich glaube, ich habe mich unverzeihlich plump benommen.«
Ohne Furcht trat sie auf mich zu. Ihr Duft füllte den Raum wie eine Wolke, die von brennendem Weihrauch aufsteigt. In ihrem geblümten Kleid mit den Spitzen an den Ärmelbündchen wirkte sie groß und geschmeidig. Das kurze schwarze Haar bedeckte ihren Kopf wie eine Kappe, zwei Löckchen schmiegten sich an ihre Wangen. Die Augen, groß und dunkel, ließen mich an Roger denken.
Besonders auffallend aber war die Art, wie sie mich ansah. Mit diesem Blick hätte sie ein Raubtier entnerven können; das Licht hob ihre Wangenknochen hervor, ihr Mund war unbewegt und verriet keinerlei Gefühl.
»Ich kann sofort hier weggehen, wenn Sie das möchten«, sagte ich mit bebender Stimme. »Ich kann einfach ganz langsam aufstehen und gehen, ohne Sie zu verletzen. Ich schwöre. Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen.«
»Warum du?« fragte sie.
»Ich verstehe Ihre Frage nicht«, erwiderte ich. Weinte ich etwa? Oder zitterte ich nur am
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