Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
Er schaute sie nur an. Dann richtete er sich beleidigt auf und trat zurück. Er schien mit dem Haus zu verschmelzen. Ich sah die handgeschnitzten Möbel, auf die die Familie so stolz war, weil alles eigene Handwerksarbeit war, sah die eigenhändig geschnitzten Holzkreuze und die Leuchter mit den vielen Kerzen. Ich sah die Symbole, die auf die hölzernen Fensterrahmen gemalt worden waren, und die Borde, auf denen die hübschen selbst gemachten Töpfe, Kessel und Schüsseln ausgestellt waren. Ich sah sie, die ganze Familie, sah ihren Stolz, sah die Frauen mit ihren Stickereien und Flickarbeiten, und es war tröstlich, beruhigend, sich an die Beständigkeit und Wärme ihres täglichen Lebens zu erinnern. Und doch war es trübe, beklagenswert trübe, verglichen mit der Welt, die ich kennen gelernt hatte!
Ich trat vor und hielt ihm abermals die Börse hin, und immer noch mit verhülltem Gesicht, so dass meine Stimme gedämpft war, sagte ich: »Ich bitte Euch, dies zu nehmen. Ihr tut mir einen Gefallen damit, vielleicht trägt es zur Rettung meiner Seele bei. Es ist von Eurem Neffen, von Andrei. Er ist weit, weit fort in dem Land, in das ihn die Sklavenhändler verschleppten, er wird nie wieder heimkommen. Aber es geht ihm gut, und er will, was er besitzt, mit seiner Familie teilen. Er bat mich, ihm zu erzählen, wer von der Familie noch lebt und wer gestorben ist. Wenn ich Euch das Geld nicht gebe, wenn Ihr es nicht nehmen wollt, werde ich zur Hölle verdammt sein.«
Es kam keine Antwort von ihnen, nicht in Worten. Aber aus ihrem Geist konnte ich alles entnehmen, was ich wissen wollte, alles. Ja, Iwan lebte, und nun kam ich, dieser fremde Mann, und behauptete, dass Andrei ebenfalls am Leben war. Iwan trauerte um einen Sohn, der nicht nur lebte, sondern auch noch wohlhabend war! Das Leben ist eine Tragödie, so oder so. Nur eins ist sicher, dass man stirbt. »Ich bitte Euch«, sagte ich.
Von Zweifeln geplagt, nahm mein Onkel die Börse an, die ich ihm in die Hand drückte. Sie enthielt Golddukaten, mit denen man überall zahlen konnte. Ich ließ den Umhang los und zog einen Handschuh aus, dann nahm ich die Ringe ab, die an jedem Finger meiner Hand steckten, Ringe mit Opalen, Onyxen, Amethysten, Topasen und Türkisen besetzt. An dem Mann und den Jungen vorbei ging ich zur anderen Seite des Herdes und legte sie ehrfürchtig in den Schoß der alten Frau, die meine Mutter gewesen war, als sie plötzlich den Blick hob. Ich ahnte, dass sie im nächsten Moment erkennen würde, wer ich war. Ich verhüllte mein Gesicht wieder, doch mit der linken Hand zog ich den Dolch aus meinem Gürtel, eine kurze Misericorde. Das ist ein kleiner Dolch, den der Krieger mit sich trägt, um in der Schlacht dem Mann, der tödlich verwundet ist, den Gnadenstoß zu geben. Es war eher ein Zierrat als eine Waffe, und die goldüberzogene Scheide war mit dicht an dicht gesetzten Perlen geschmückt.
»Für dich«, sagte ich, »für Andreis Mutter, die ihr Halsband aus Flussperlen immer so sehr gemocht hat. Nimm dies für Andreis Seele.« Ich legte den Dolch meiner Mutter zu Füßen. Und dann verbeugte ich mich tief, so tief, dass mein Kopf fast den Boden berührte und ging hinaus. Ohne mich noch einmal umzudrehen, schloss ich die Tür hinter mir, blieb jedoch zögernd in der Nähe stehen, weil ich hören wollte, wie sie alle aufsprangen und sich drängelten, um die Ringe und den Dolch anzuschauen, aber auch um nach dem Türschloss zu sehen. Eine Weile lang war ich schwach von dem Gefühlssturm. Aber nichts konnte mich von meinem nächsten Vorhaben abhalten. Ich wandte mich nicht an Marius, denn ich war zu feige, seine Unterstützung dabei zu erbitten, oder gar seine Zustimmung. Ich ging einfach die schlammige, verschneite Straße hinab, trottete durch den Schneematsch auf die Schenke zu, die dem Fluss am nächsten lag, denn ich nahm an, dass ich meinen Vater dort finden würde. Als Kind war ich kaum je dort hineingegangen, höchstens, um meinen Vater nach Hause zu holen. Ich hatte eigentlich keine Erinnerung daran, ich wusste nur, dass die Ausländer dort tranken und fluchten. Es war ein lang gestrecktes Gebäude, aus den gleichen rohen, unbehauenen Balken wie mein Vaterhaus, mit dem gleichen Lehmmörtel und den gleichen Rissen und Sprüngen, durch die der eisige Wind pfiff. Das Dach war sehr hoch, mit sechs Lagen Stroh bedeckt, damit das Gewicht des Schnees gleichmäßig verteilt wurde, und an der Traufe hingen die Eiszapfen dicht an dicht, wie zu
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