Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
versteckt, als Glücksbringer für eine gute Ernte. Einmal hatte ich eins auf den Türbalken des Hauses gesetzt, in das meine Schwester als junge Braut einziehen sollte. Es gab eine hübsche Geschichte über diese Eier, die besagte, dass, solange man dem Brauch Folge leistete, solange es solche Eier gab, die Welt frei sein würde von dem Monster des Bösen, das immer darauf lauerte, zu kommen und alle Welt zu verschlingen. Es war ein so heimeliges Gefühl, diese Ostereier in dem gewohnten Winkel mit den stolzen Ikonen zu sehen, zwischen den geheiligten Gottesbildern! Dass ich diesen Brauch vergessen hatte, schien mir eine Schande und eine Warnung vor zu erwartenden Tragödien zu sein.
Aber dann war ich plötzlich von den Heilandgesichtern gepackt und vergaß alles andere. Ich sah das Antlitz Christi im Licht des Feuers glänzen, mein strahlender, ernster Christus, wie ich ihn selbst so oft gemalt hatte. Ich hatte viele Bilder wie dieses gemalt, und doch, wie ähnlich war dieses eine doch dem, das ich damals in dem hohen Gras der Wildnis verloren hatte!
Aber das war ja nicht möglich! Wie hätte jemand an die Ikone gelangen sollen, die ich bei meiner Gefangennahme hatte fallen lassen? Nein, das musste eine andere sein, denn wie gesagt, ich hatte viele gemalt, ehe meine Eltern den Mut gehabt hatten, mich zu den Mönchen zu bringen. Überall in dieser Stadt gab es Ikonen von mir. Mein Vater hatte sogar welche - ein stolzes Geschenk - zu Fürst Michael gebracht, und es war der Fürst gewesen, der gesagt hatte, dass die Mönche meine Kunstfertigkeit sehen mussten. Wie streng unser HERR nun schaute, verglichen mit dem sanften, nachdenklichen Christus des Fra Angelico oder dem edlen, sorgenzerfurchten Christus von Bellini! Und doch war er durchwärmt von meiner Liebe. Er war der Christus in unserem alten Stil, dessen Liebe sich in strengen Linien, in dämmrigen Farben auf die Art und Weise meiner Heimat ausdrückte. Und er war durchwärmt von der Liebe, die er mir schenkte, wie ich damals ganz tief glaubte.
Übelkeit stieg in mir auf. Ich spürte die Hand meines Gebieters auf meiner Schulter. Doch er zog mich nicht fort, wie ich fürchtete. Er hielt mich nur fest und legte seine Wange an mein Haar. Ich war drauf und dran zu gehen. Es war jetzt genug. Aber dann brach die Musik ab. Da war eine Frau - war das nicht meine Mutter? Nein, sie war jünger, meine Schwester Anya, zur Frau herangereift. Sie sprach mit Erschöpfung in der Stimme darüber, dass auch mein Vater wieder würde singen können, wenn man nur den Alkohol vor ihm versteckt hielte, damit er wieder zu sich selbst fände.
Mein Onkel Boris verzog verächtlich das Gesicht. Iwan sei hoffnungslos, sagte er. Kein Tag würde ihn je wieder nüchtern sehen, er würde bald sterben. Der Alkohol hatte Iwan vergiftet, sei es das edle Zeug, das er von den Händlern bekam, wenn er verkaufte, was er aus dem eigenen Haus stahl, oder sei es der Bauernschnaps, den er den Leuten unter Androhung von Gewalt abpresste, da er immer noch der Schrecken der Vorstadt war. Mir sträubten sich die Haare. Iwan, mein Vater, lebte? Iwan lebte, nur um derart unehrenhaft zu sterben? Iwan war nicht in der Steppe erschlagen worden?
In ihren ungelenken Schädeln verbanden sich die Gedanken an ihn mit dem, was er gesagt hatte. Mein Onkel sang ein weiteres Lied, ein Tanzlied. In diesem Haus würde niemand tanzen, sie „| waren alle zu müde von der schweren Arbeit, und die Frauen halb blind, da sie immerfort mit Stopf- und Flickarbeiten beschäftigt waren, wie man an den Wäschestapeln in ihrem Schoß sehen konnte. Immerhin munterte die Musik sie auf, und einer, ein Junge, kaum so alt wie ich, als ich starb, ja, mein kleiner Bruder, flüsterte ein Gebet für meinen Vater, dass er nicht heute Nacht erfrieren möge, denn schon häufig genug war er kurz davor gewesen, wenn er betrunken in den Schnee gefallen war. »Bitte, bring ihn sicher heim«, flüsterte der Kleine.
Dann sprach Marius hinter mir, er versuchte, das Gehörte zu ordnen und mich zu beruhigen.
»Ja, es scheint wahr zu sein, ohne Zweifel. Dein Vater lebt.« Ehe er mich noch zur Vorsicht mahnen konnte, trat ich vor und öffnete die Haustür. Es war Wahnsinn, was i ch tat, verwegen, und ich hätte Marius um Erlaubnis bitten sollen, aber wie ich dir schon gesagt habe, war ich ein ungebärdiger Schüler. Ich musste einfach so handeln. Der Wind fegte durchs Haus. Die zusammengedrängten Gestalten schauderten und zogen sich die dicken
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