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Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Titel: Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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personifizierten Todesboten gewesen waren. Ich zog mir einen Hocker heran, damit ich still neben ihm sitzen und sein Gesicht betrachten konnte. Ich hatte den Handschuh vorhin nicht wieder angezogen. Nun legte ich meine kalte Hand auf seine S tirn, ganz leicht, ich wollte nicht aufdringlich sein, und langsam schlug er die Augen auf. Sie waren verschwommen, aber doch herrlich strahlend, und für eine Weile schaute er mich zärtlich und wortlos an, als gäbe es keinen Grund, sich zu bewegen, als wäre ich eine Vision am Rand seiner Träume.
    Ich spürte, wie mir die Kapuze vom Kopf glitt, aber ich unternahm nichts dagegen. Ich konnte nicht sehen, was er sah, aber ich wusste, was er sah - seinen Sohn, mit dem bartlosen Gesicht, wie er es gekannt hatte, und dem langen, lose herabfallenden kastanienfarbenen Haar, dessen Wellen von Schnee bestäubt waren. Auf der anderen Seite des Raumes saßen die anderen Gäste, ihre Körper nur Umrisse gegen die lodernden Flammen des Feuers, und sangen und redeten, und der Wein floss.
    Nichts stellte sich zwischen mich und diesen Augenblick, zwischen mich und diesen Mann, der seine ganze Kraft aufgeboten hatte, um die Tataren niederzumachen, der Pfeil um Pfeil gegen seine Feinde geschickt hatte, während ihre eigenen Pfeile vergebens auf ihn niedergeregnet waren.
    »Sie haben dich nicht einmal verwundet«, hauchte ich. »Ich liebe dich, und erst jetzt weiß ich, wie stark du wirklich warst.« War meine Stimme überhaupt zu hören?
    Er zwinkerte mit den Lidern, als er mich anschaute, und dann fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. Seine Lippen waren kräftig rosafarben, wie Korallen schimmerten sie durch die dichten Bartfransen.
    »Sie haben mich verwundet.« Seine Stimme war leise. Leise, aber nicht schwach. »Zweimal haben sie mich erwischt, an der Schulter und am Arm. Getötet haben sie mich zwar nicht, aber sie ließen Andrei nicht los. Ich bin vom Pferd gefallen. Aber ich sprang auf, meine Beine hatten sie nicht getroffen. Ich bin ihnen nachgerannt, ich rannte und rannte und hörte nicht auf, zu schießen. So’n verfluchter Pfeil steckte in meiner rechten Schulter, hier.« Seine Hand tauchte unter dem Pelz hervor, und er legte sie auf die dunkle Rundung seiner Schulter. »Ich habe einfach weitergeschossen. Ich habe nicht mal was gespürt. Ich sah nur, dass sie wegritten. Sie nahmen ihn mit, ich weiß nicht einmal, ob er noch lebt. Ich weiß es nicht. Aber warum die Mühe, ihn fortzuschleppen, wenn sie ihn erschossen hatten? Überall waren Pfeile. Es regnete Pfeile! Bestimmt fünfzig Stück. Sie haben alle anderen umgebracht! Denen hatte ich gesagt, ihr dürft nicht aufhören zu schießen, nicht eine Sekunde, duckt euch nicht, schießt, schießt! Und wenn ihr keine Pfeile mehr habt, nehmt euer Schwert und stürzt euch auf sie, reitet direkt in sie hinein, sucht hinter dem Pferdehals Deckung und reitet sie über den Haufen. Nun, vielleicht haben sie’s ja getan. Ich weiß es nicht.« Er senkte die Lider, schaute um sich. Er wollte sich auflichten, und dann sah er mich an.
    »Gebt mir was zu trinken. Kauft mir w as, was Ordentliches. Der Wirt hat Sack. Besorgt mir eine Flasche davon. Teufel, in früheren Tagen hab ich draußen auf dem Fluss den Händlern aufgelauert, ich habe nie was kaufen müssen. Besorgt mir eine Flasche Sack. Ich kann sehen, dass Ihr reich seid.«
    »Weißt du, wer ich bin?«, fragte ich.
    Er sah mich mit echter Verwirrung an. Diese Frage war ihm nicht einmal in den Sinn gekommen.
    »Ihr kommt von der Burg. Ihr sprecht mit litauischem Akzent. Mir ist egal, wer Ihr seid. Kauft mir Wein!«
    »Mit litauischem Akzent?«, fragte ich leise. »Das ist ja grässlich. Ich denke eher, es ist der Akzent eines Venezianers, und ich schäme mich.«
    »Venedig? Da braucht Ihr Euch nicht zu schämen. Gott weiß, die haben sich bemüht, Konstantinopel zu retten, wirklich. Alles geht z um Teufel. Das Ende der Welt wird mit Feuer kommen. Kauft mir Wein, bevor es so weit ist, ja?«
    Ich stand auf. Hatte ich noch irgendwo Geld? Während ich mich das noch fragte, ragte die schweigende Gestalt meines Herrn hinter mir auf. Er reichte mir eine Flasche Sack, schon entkorkt und zum Trinken bereit. Ich seufzte. Der Duft des starken Weins bedeutete mir nichts mehr, aber ich wusste, dass es ein hervorragender Tropfen war und außerdem genau das, was mein Vater hatte haben wollen. Der hatte sich inzwischen aufrecht hingesetzt und starrte nun die Flasche an, die in meiner Hand lag. Er

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