Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
Hause.
Ich wunderte mich darüber, dass Menschen so leben konnten, dass die Kälte sie nicht dazu brachte, etwas zu bauen, das mehr Schutz bot und dauerhafter war, aber hier, wo die Armen und Kranken, die Beladenen und Hungernden lebten, war es immer so gewesen. Ich kam zu dem Schluss, dass der harte Winter zu viel von ihnen verlangte, dass der kurze Frühling und Sommer ihnen zu wenig schenkte, so dass Resignation am Ende ihre größte Tugend war.
Aber mag sein, dass ich das damals ganz falsch sah, es immer noch falsch sehe. Was wichtig ist, ist dies: dass Hoffnungslosigkeit dort regierte. Und obwohl es nicht hässlich war - Holz und Lehm und Schnee und Trübsinn sind nicht hässlich -, so war es doch eine Stätte ohne Schönheit, sah man von den Ikonen ab, und vielleicht von den fernen Umrissen der eleganten Kuppeln der Santa Sofia, die sich auf dem Hügel gegen den sternenübersäten Himmel abhoben. Aber das konnte nicht genügen.
Als ich die Schenke betrat, zählte ich auf den ersten Blick um die zwanzig Männer, die alle mit einer unbeschwerten Heiterkeit miteinander tranken und redeten - erstaunlich, in Anbetracht der spartanischen Ausstattung des Lokals, das eigentlich nur Obdach für die Nacht bot, während der man sich um das Feuer drängte. Hier gab es keine tröstlichen Ikonen. Aber einige der Männer sangen, und der unerlässliche Harfenspieler zupfte sein Instrument, während ein anderer Mann auf einer kleinen Flöte blies. Die Gäste hatten sich um die Tische geschart, von denen es eine ganze Anzahl gab, teils sogar mit Leinen gedeckt. Andere zeigten die rohe Tischplatte. Wie in meiner Erinnerung waren auch jetzt einige der Männer Ausländer. Drei stammten aus Italien, wie ich sofort hörte, dem Akzent nach Genuesen, schätzte ich. Es gab sogar mehr Ausländer, als ich erwartet hatte. Der Flusshandel hatte sie hergebracht, also ging es Kiew im Moment vielleicht doch nicht so schlecht.
Hinter der Theke standen jede Menge Wein- und Bierkrüge, und der Wirt verkaufte seine Vorräte becherweise. Ich sah mehr als genug Flaschen italienischen Weines, ohne Zweifel recht kostspielig, und auch Gefäße mit Sherry - Sack nannte man ihn -, dem starken, spanischen Wein.
Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, schob ich mich nach links in die dunkel beschattete Ecke, wo ein tief in seine dicken Pelze verkrochener europäischer Reisender vielleicht nicht beachtet werden würde.
Doch die Anwesenden waren viel zu betrunken, um auf mich zu achten. Zuerst rappelte der Wirt sich auf und versuchte Begeisterung über den neuen Gast zu zeigen, doch dann sackte sein Kinn wieder in die abgestützte Handfläche, und er döste weiter. Die Musik spielte weiter, abermals eine alte Weise, doch nicht so fröhlich wie die, die mein Onkel gesungen hatte. Der Musiker schien jedoch auch sehr müde zu sein.
Dann sah ich meinen Vater.
Er lag lang ausgestreckt auf dem Rücken auf einer breiten, groben, verklebten Bank, er trug sein Lederwams, und seinen sehr schweren, dichten Pelzmantel hatte jemand fein säuberlich über ihn gebreitet, als ob die anderen Trinker ihm damit hätten Hochachtung erweisen wollen, nachdem er bewusstlos geworden war. Der Mantel war aus Bärenfell, und das wies ihn als ziemlich reichen Mann aus. Er schnarchte in seinem trunkenen Schlaf, Alkoholdunst stieg von ihm auf, und als ich mich neben ihn kniete und in sein Gesicht sah, rührte er sich nicht.
Seine Wangen, wenn auch abgemagert, waren immer noch rot, doch unter den Wangenknochen lagen tiefe Höhlungen, und in seinem Haar gab es graue Strähnen. Besonders sein Bart war davon durchzogen. Mir schien, das Haar an den Schläfen sei gelichtet und die glatte, edle Stirn höher geworden, aber vielleicht war dies auch nur Einbildung. Die Augen wiesen dunkle Ringe auf, und die zarte Haut ringsum war geschwollen. Seine Hände, die er unter dem Mantel zusammengelegt hatte, konnte ich nicht sehen, aber ich bemerkte an seinem mächtigen Körperbau, dass er immer noch stark war, noch hatte die Liebe zum Alkohol ihn nicht zerstört.
Plötzlich packte mich das verstörende Gefühl seiner Lebendigkeit. Ich konnte sein Blut riechen, seine Lebenskraft, als sei er ein mögliches Opfer, das mir über den Weg gestolpert war. Ich verdrängte das aus meinem Bewusstsein und sah ihn nur eindringlich an, spürte meine Liebe zu ihm und hatte nur den einen Gedanken: dass ich froh war, ihn lebendig zu sehen! Er war der Wildnis entkommen. Er war den Angreifern entkommen, die die
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