Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Titel: Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
suchte ich? Wollte ich das alles mit meinem neuen Maßstab bewerten? Wollte ich mir selbst bestätigen, dass ich als sterbliches Kind hier nie eine Chance gehabt hätte?
    Lieber Gott, es gab keine Rechtfertigung für das, was ich war, ein gottloser Bluttrinker, der sich von dem Luxusbüffet der sündigen venezianischen Welt nährte, das war mir klar. War dies hier eine eitle Übung, sich selbst zu rechtfertigen? Nein, etwas anderes zog mich zu dem langen, rechteckigen Haus, das wie so viele andere hier aus dicken Lehmwänden zwischen rohem, hölzernem Fachwerk bestand, mit dem vierlagigen Strohdach, das mit zahllosen Eiszapfen behängt war. Etwas zog mich zu diesem großen, primitiven Haus, das mein Heim gewesen war.
    Sobald wir ankamen, schlich ich mich um eine Ecke. Der Schnee war hier geschmolzen, und auch das Wasser vom Fluss sickerte die Straße entlang und lief in alle Öffnungen, wie es schon in meiner Kindheit gewesen war. Das Wasser saugte sich in meine feinen italienischen Stiefel, aber es konnte meine Füße nicht mehr erstarren lassen wie damals, denn ich bezog meine Kraft nun von Göttern, die man hier nicht kannte, und von Wesen, für die diese schmutzigen Bauern, zu denen ich einst auch gehört hatte, keinen Namen hatten. Ich lehnte meinen Kopf an die raue Wand, wie ich es zuvor in dem Kloster gemacht hatte, schmiegte mich an den Mörtel, als könne mir die feste Wand Schutz bieten und mir alles übertragen, was ich wissen wollte. Durch ein winziges Loch in dem ewig bröckelnden Lehm vermochte ich hineinzuspähen und sah in dem vertrauten Dunst von Kerzenlicht und dem helleren der Lampen eine Familie, die um den großen, wärmenden Ziegelherd versammelt saß. Ich kannte sie alle, diese Leute, obwohl mir einige der Namen entfallen waren. Ich wusste, dass sie alle Verwandte waren, kannte ihr gemeinsames Umfeld. Aber ich musste mehr sehen als nur dieses Grüppchen. Ich musste wissen, ob es allen gut ging, ich musste wissen, ob sie nach jenem schicksalhaften Tag meiner Entführung - und ohne Zweifel der Ermordung meines Vaters - dort in der Wildnis mit ihrer gewohnten Tatkraft hatten weiterleben können. Möglicherweise wollte ich auch wissen, welche Gebete sie sprachen, wenn sie an Andrei dachten, den Knaben, der die Gabe besaß, so wundervolle Ikonen zu malen, Ikonen, die nicht von Menschenhand gemacht waren.
    Ich hörte die Harfe von drinnen, ich hörte Singen. Es war die Stimme eines meiner Onkel, einer, der vom Alter her mein Bruder hätte sein können. Er hieß Boris und hatte seit seiner frühesten Kindheit gut singen können, denn er merkte sich die alten Sagen von Rittern und Helden gut. Und eine solche Ballade, getragen und tragisch, sang er nun. Die Harfe war klein und alt, die meines Vaters, und Boris zupfte die Saiten im Takt zu den Worten, während er die Geschichte mehr erzählte als sang. Sie handelte von einer lebhaften, verhängnisvollen Schlacht um das alte, glorreiche Kiew.
    An mein Ohr klangen die vertrauten Kadenzen, die in meiner Familie über die Jahrhunderte von Sänger zu Sänger weitergegeben worden waren. Ich löste mit den Fingern noch ein wenig Mörtel, damit ich durch die Öffnung den Winkel mit den Ikonen sehen konnte, direkt gegenüber der Familie, die sich hier um das hell in der Herdstelle lodernde Feuer eingefunden hatte.
    Ach, was für ein Anblick! Inmitten von dutzenden niedergebrannter Kerzenstummel und irdener Lampen mit brennendem Talg lehnten über zwanzig Ikonen in ihren goldenen Rahmen, manche sehr alt und schon vergilbt, manche leuchteten noch, als wären sie erst gestern durch die Kraft Gottes zum Leben erweckt worden. Zwischen den Bildern standen bemalte Eier, deren wunderbare Muster und Farben ich noch gut in Erinnerung hatte, obwohl ich sie selbst mit meinen Vampiraugen auf diese Entfernung nicht erkennen konnte. Wie oft hatte ich den Frauen zugesehen, wenn sie diese heiligen Eier für das Osterfest verzierten! Dann trugen sie heißes Wachs mit kleinen hölzernen Stäbchen auf, das Streifen oder Sterne oder Kreuze bildete, oder auch Linien, die Widderhörner darstellten oder das Symbol für einen Schmetterling oder Storch. Danach wurde das Ei in ein kaltes Färbebad mit wunderbar kräftigen Farben getaucht. In den schlichten Mustern und Zeichen schien eine endlose Vielfalt an Bedeutungen zu liegen.
    Die zerbrechlichen, wunderschönen Eier bewahrte man, um Krankheiten zu heilen oder als Schutz gegen Stürme. Ich hatte einst solche Eier in einem Obstgarten

Weitere Kostenlose Bücher