Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
Pelze hoch über die Schultern. Das Feuer in dem Ziegelschlund stob flackernd in die Höhe. Ich wusste, dass ich den Hut, in diesem Falle meine Kapuze, hätte absetzen sollen, und dass ich die Ikonen in der Ecke hätte ansehen und mich bekreuzigen müssen, aber das konnte ich nun doch nicht. Tatsächlich zog ich, um mich zu verbergen, die Kapuze noch weiter ins Gesicht, während ich die Tür schloss. Ich hielt den Pelzumhang vor meinen Mund gedrückt, damit nur meine Augen zu sehen waren und vielleicht ein Büschel rötlicher Haare.
»Wieso hat der Alkohol Iwan im Griff?« Ich flüsterte, die vertraute russische Sprache war mir wieder eingefallen. »Iwan war der stärkste Mann der Stadt. Wo ist er jetzt?«
Sie waren argwöhnisch und zornig über mein Eindringen. Das Feuer im Herd knisterte, und die Flammen tanzten unter dem Schwall frischer Luft. Der Winkel mit den Ikonen schien wie ein eigenes Meer vollkommener, strahlender Flammen, mit den herrlichen Bildnissen und den vereinzelten Kerzen, ein Feuer anderer Art und ewig während. Ich sah in dem flackernden Licht ganz deutlich das Antlitz Jesu. Die Augen schienen mich zu fixieren.
Mein Onkel erhob sich und schob die Harfe einem mir unbekannten Jungen in den Arm. Ich sah, wie sich die jüngeren Kinder im dämmrigen Hintergrund des Zimmers aus ihrem dicht um sie gewickelten Bettzeug aufrichteten. Ihre glänzenden Augen starrten mich aus dem Dunkel an. Die anderen drängten sich im Licht des Feuers zusammen und schauten mich ebenfalls an.
Da war mein Mutter, gebrechlich, traurig, als wären Jahrhunderte vergangen, seit ich sie verlassen hatte, eine Greisin, die sich an das Plaid klammerte, das ihre Knie bedeckte. Ich sah sie forschend an, versuchte herauszufinden, was der Grund für ihren Verfall war. Zahnlos, hinfällig, die Knöchel geschwollen und aufgerissen und glänzend vom Arbeiten - vielleicht hatte sie auch nur die Arbeit zu schnell an den Rand des Grabes getragen.
Ein ganzes Sammelsurium an Gedanken prasselte mir entgegen, als ob man mir Hiebe versetzte. Engel, Teufel, nächtlicher Besucher, Schrecken der Dunkelheit, was bist du? Ich sah, wie Hände sich zum hastigen Kreuzschlagen hoben. Aber die Gedanken, die sich auf meine Frage bezogen, lagen ganz klar zutage. Wer wusste denn nicht, dass Iwan der Jäger zu Iwan dem Säufer geworden war, zu Iwan dem Wahnsinnigen, und zwar durch den Tag in der Steppe, an dem er die Tararen nicht daran hatte hindern können, seinen Sohn Andrei zu verschleppen.
Ich schloss die Augen. Was ihm widerfahren war, war schlimmer als der Tod. Und ich hatte mich nicht ein einziges Mal auch nur gefragt, ob er noch lebte, nicht einmal gewagt, daran zu denken, dass er lebte. Hatte mich nicht genügend um sein Schicksal gesorgt. Überall in Venedig gab es Geschäfte, in denen ich einen Brief an ihn hätte aufgeben können, einen Brief, den die großen venezianischen Händler mit zu einem Hafen hätten nehmen können, von wo aus er über die berühmten Postrouten des Khan hätte befördert werden können. Das alles war mir klar. Dem selbstsüchtigen kleinen Andrei war dies alles klar, diese winzige Sache, die die Vergangenheit für ihn hätte abschließen, sie dem Vergessen hätte anheim geben können. Ich hätte schreiben können:
»Meine liebe Familie, ich lebe und bin glücklich, wenn ich auch nie wieder heimkehren kann. Nehmt das Geld, das ich mitschicke, für meine Brüder und Schwestern und meine Mutter -« Aber ich hatte es ja nicht gewusst. Die Vergangenheit war für mich nur Elend und Chaos gewesen. Jedesmal, wenn auch nur die simpelsten Bilder zu lebendig wurden, hatten mich Qualen übermannt.
Mein Onkel hatte sich vor mir aufgebaut. Er war ebenso groß wie mein Vater, und genau wie er trug er eine lederne Tunika und Filzstiefel. Ruhig, aber ernst schaute er auf mich nieder. »Wer bist du, dass du so in unser Haus eindringst?«, fragte er. »Welcher Fürst steht da vor uns? Hast du eine Botschaft für uns? Dann sprich, und wir wollen vergeben, dass du das Schloss an unserer Tür gesprengt hast.«
Ich atmete tief ein. Ich hatte keine Fragen mehr. Ich wusste, wo ich Iwan den Säufer finden konnte. Er war in der Schenke, zusammen mit den Fischern und Pelzhändlern, denn das war der einzige überdachte Raum, den er außer seinem Heim je gemocht hatte.
Ich fummelte mit der Linken, bis ich die Börse fand, die ich immer bei mir trug, an meinem Gürtel befestigt, wie es sich gehörte. Ich riss sie ab und reichte sie dem Mann.
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