Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
und endlich das byzantinische Christentum. In Konstantinopel rührte man die Russen in die herrlichen Kirchen, in denen die griechischen Katholiken ihren Gott verehrten, und sie fanden diese Bauwerke so wunderschön, dass sie nicht wussten, ob sie im Himmel waren oder noch auf der Erde. Noch nie hatten sie etwas derart Glanzvolles gesehen. Sie waren sich sicher, dass in dieser Religion, die in Konstantinopel ausgeübt wurde, Gott unter den Menschen weilte. Und so kam es, dass die Russen ihr Herz dem byzantinischen Christenrum zuwandten. Es war also die Schönheit, aus der letztendlich die Russische Kirche geboren wurde.
In Kiew konnten die Menschen einst finden, was Wladimir neu zu erschaffen suchte, aber nun, da Kiew eine Ruine ist, und die Türken die Hagia Sophia in Konstantinopel übernommen haben, muss man nach Venedig kommen, um die Theotokos zu sehen, die Jungfrau als Gottesgebärerin, und ihren Sohn, der zum Pantokrator wird, dem Göttlichen Schöpfer aller Dinge. In Venedig fand ich die goldglänzenden Mosaiken, und in den körperbetonten Bildern des neuen Zeitalters fand ich das einzigartige Wunder, das das Licht Christi, Unseres HERRN, in das Land brachte, in dem ich geboren wurde, das Licht Christi, das in dem Höhlenkloster dort immer noch brennt.
Ich legte die Feder nieder. Ich schob das Blatt zur Seite. Dann legte ich den Kopf auf die Arme und weinte in dem von Schatten umdüsterten Schlafgemach still in mich hinein. Mir war es gleichgültig, ob ich nun geschlagen, getreten oder übersehen würde.
Schließlich kam Marius, um mich mit in unsere Krypta zu nehmen. Und jetzt erst, Jahrhunderte später, im Rückblick, wird mir klar, dass die Tatsache, dass er mich zum Schreiben gezwungen hatte, die Ursache dafür war, dass ich die Lehren jener Zeit nie vergessen habe. Am nächsten Abend, nachdem er meinen Bericht gelesen hatte, bereute er, mich geschlagen zu haben, und er erklärte mir, dass es ihm schwer falle, mich nicht wie ein Kind zu behandeln. Doch ich sei kein Kind mehr. Eher sei ich ein einem Kinde ähnlicher Geist -naiv und wie besessen, wenn ich bestimmte Themen verfolgte. Er hätte nie erwartet, mich einmal so sehr zu lieben.
Ich wollte abgehoben und distanziert erscheinen, weil er mich verprügelt hatte, aber ich konnte es einfach nicht. Ich staunte, dass seine Berührungen, seine Umarmungen, seine Küsse so viel mehr für mich bedeuteten denn zuvor, als ich noch ein Mensch war.
12
I ch wünsche, ich könnte nun mit diesem glücklichen Bild von -L Marius und mir in Venedig einfach abbrechen und die Geschichte erst in New York in unserer heutigen Zeit wieder aufnehmen. Ich möchte zu dem Augenblick s pringen, als Dora in dem Zimmer in New York das Schweißtuch ausbreitete, diese Reliquie, die Lestat von seiner Reise ins Inferno mitbrachte, denn dann hätten wir hier zwei vollkommene Hälften einer Geschichte - der des Kindes, das ich gewesen war, das zum Glaubensfanatiker wurde, und der des Geschöpfes, das ich nun bin.
Aber so einfach kann ich mich nicht selbst täuschen. Ich weiß, dass das, was Marius und mir in den Monaten nach unserer Russlandreise widerfuhr, Teil und Last meines Lebens ist.
Es bleibt nur eins zu tun: die Seufzerbrücke in meinem Leben, die lange, dunkle Brücke, die die Jahrhunderte meiner qualvollen Existenz mit den heutigen Zeiten verbindet, zu überqueren. Dass Lestat schon einen Teil jenes Lebens so fein geschildert hat, heißt nicht, dass ich, ohne meine eigenen Worte hinzuzufügen, davonkommen kann, und vor allem nicht ohne selbst zu würdigen, dass ich drei Jahrhunderte lang der Tor um Gottes willen gewesen bin. Ich wünschte, mir wäre dieses Geschick erspart geblieben. Ich wünschte, Marius wäre erspart geblieben, was uns widerfuhr. Inzwischen ist klar, dass er unsere Trennung mit wesentlich größerer Einsicht und Seelenstärke überstanden hat als ich. Aber er war immerhin schon Jahrhunderte alt und weise, und ich war noch ein unfertiger Jüngling.
Unsere letzten Monate in Venedig waren von keiner Vorahnung des Kommenden getrübt. Mit Nachdruck lehrte er mich die grundlegenden Lektionen.
Eine der wichtigsten war die, wie man inmitten von Menschen als menschliches Wesen durchgehen konnte. Nach meiner Umwandlung hatte ich den Umgang mit den anderen Lehrlingen nicht mehr besonders intensiv gepflegt, und meine liebste Bianca hatte ich ganz und gar gemieden, Bianca, der ich doch so große Dankbarkeit schuldete, nicht nur für die frühere Freundschart,
Weitere Kostenlose Bücher