Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
noch die verblüffenden, güldenen Ausführungen seiner Nachfolger, die Schönheit für Christus schufen, so glorifizierte ich doch insgeheim den Unterlegenen dieser Schlacht, den gesegneten Isaak, denn in meinem unreifen Verstand bildete ich mir ein, dass er den wahren Weg zum HERRN gewählt hatte.
Marius wusste von meinem Kampf, er wusste, wie sehr die Erfahrungen von Kiew mich beherrschten, und er wusste, wie unendlich wichtig das alles für mich war. Er vor jedem anderen, den ich je kannte, verstand, dass sich jedes Wesen bestimmten fundamentalen Werten unterwirft, einem Leitgedanken sozusagen, der mit seiner anständigen Lebensführung untrennbar verbunden ist.
Für uns bedeutete Leben, das Leben eines Vampirs zu führen. Aber Leben war es in jedem Sinn des Wortes, ein sinnliches Leben, körperliches Leben. Ich konnte jedoch den Zwängen und Obsessionen meiner Kindheit nicht entweichen, indem ich mich in dieses Leben flüchtete. Im Gegenteil, ich sah sie noch vergrößert.
Schon einen Monat nach meiner Rückkehr war mir klar, dass ich bereits festgelegt hatte, wie ich der Welt um mich her begegnen würde. Ich würde in der üppigen Schönheit der italienischen Malerei, Musik und Architektur schwelgen, ja, aber ich würde es mit der Inbrunst eines russischen Heiligen tun. Ich würde alle sinnlichen Erfahrungen in Güte und Reinheit verwandeln. Ich würde lernen, ich würde mehr verstehen, ich würde mehr Mitleid für die Sterblichen entwickeln, und ich würde stets Druck auf mich, auf meine Seele ausüben, um das zu sein, was ich für mich als gut betrachtete.
Gut hieß vor allem gütig zu sein, freundlich und sanft. Es hieß, nichts zu verschwenden. Es hieß malen, lesen, lernen, zuhören, sogar beten, obwohl ich mir nicht sicher war, an wen sich meine Gebete richteten, und es hieß, jede Gelegenheit wahrzunehmen, jenen Sterblichen gegenüber großherzig zu sein, die nicht zu meinen Opfern zählten.
Und was die betraf, die ich tötete, so hieß es, sie möglichst gnädig zu behandeln - und ich sollte ein Meister des gnadenreichen To des werden, der nie Schmerz und Verwirrung verursachte, sondern sogar seine Opfer, so gut er konnte, bezauberte, sie mit einem Bann belegte, sei es mit meiner einschmeichelnden Summe oder dem tiefen, seelenvollen Blick meiner Augen oder durch eine andere Kraft, die ich zu beherrschen und noch fortzuentwickeln schien. Der Fähigkeit, mit meinem Geist in den des armen, wehrlosen Sterblichen einzudringen und ihn dabei zu unterstützen, seine eigenen tröstlichen Vorstellungen zu erzeugen, so dass der Tod nur zum kleinen, flackernden Flämmchen in einer großen Verzückung wurde, und danach war Sülle, süße Stille.
Ich konzentrierte mich auch darauf, das Bluttrinken zu genießen, mich in eine Sphäre zu begeben, die jenseits der drängenden Notwendigkeit meines Blutdurstes lag. Ich wollte diesen Lebenssaft, den ich meinen Opfern raubte, schmecken und alles in mich aufnehmen, was er auf dem Weg ins endgültige Verderben mit sich trug, das Schicksal der sterblichen Seele.
Die Lektionen, die Marius mir erteilte, hatte ich für eine Weile vernachlässigt. Aber endlich kam er zu mir und sagte freundlich, dass es an der Zeit sei, das Studium ernstlich wieder aufzunehmen. Dass es Dinge gab, um die wir uns kümmern mussten.
»Ich mache eigene Studien«, sagte ich, »das weißt du nur zu gut. Du weißt, dass ich nicht müßig durch die Gegend ziehe, und du weißt, dass mein Geist ebenso hungrig ist wie mein Körper. Du weißt das. Also lass mich in Ruhe.«
»Das ist ja gut und schön, kleiner Meister«, sagte er gütig, »aber du musst in die Schule zurückkehren, die ich für dich bereithalte. Es gibt Dinge, die du wissen musst.«
Fünf Nächte hielt ich ihn hin. Dann, als ich irgendwann nach Mitternacht dösend auf seinem Bett lag - ich hatte ein großes Fest auf dem Markusplatz besucht, mit Musik und Gauklern -, fuhr ich hoch, weil ich seine Rute auf meine Waden niedersausen fühlte. »Wach auf, Kind«, sagte er.
Ich drehte mich um und sah hoch, verblüfft. Er stand mit verschränkten Armen da, in der Hand die lange Rute. Er trug ein langes, gegürtetes Gewand aus rotem Samt, sein Haar hatte er im Nacken zusammengebunden. Ich wandte mich ab. Ich fand, dass er sich ein bisschen dramatisch gebärdete, dass er sicher bald wieder gehen würde. Doch die Rute sauste abermals auf mich nieder, und dann folgte eine ganze Serie von Schlägen. Ich empfand
Weitere Kostenlose Bücher