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Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Titel: Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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kleinen Nest gewölbt hatte. Es war ein dunkelrubinrot bemaltes Osterei. Wunderbar vollkommen und erlesen gemustert. Es hatte gelbe, senkrechte Streifen und in dem Mittelfeld, das durch die Streifen gebildet wurde, war eine Rose oder ein achtstrahliger Stern aufgemalt. Ich betrachtete das Ei und dann nickte ich ihr zu. Ich zog ein Taschentuch aus hauchfeinem flämischen Leinen hervor und wickelte das Ei hinein, indem ich es mit den Tuchzipfeln gut polsterte. Dann schob ich das kleine Bündel sorgfältig zwischen die Falten meiner Tunika, noch unter Wams und Umhang. Ich neigte mich zu ihr und küsste abermals ihre weichen, trockenen Wangen. »Mutter«, sagte ich, »eine Freude in allem Kummer, das bist du für mich!«
    »Mein süßer Andrei«, gab sie zurück. »So geh mit Gott, wenn du fort musst.«
    Sie senkte ihren Blick auf die Ikone. Sie wollte, dass ich sie noch einmal ansah. Sie drehte sie so, dass ich das schimmernde, goldene Antlitz des HERRN sehen konnte, so wächsern und fein wie an dem Tag, als ich es für sie gemalt hatte. Aber nein, ich hatte es nicht für sie gemalt. Nein, dies war genau das Bild, das ich an jenem Tag auf unserem Ritt in die Wildnis mitgenommen hatte. Oh, welch ein Wunder, dass mein Vater es wieder mit heimgebracht hatte von dem Schauplatz seines Verlustes! Aber warum auch nicht? Warum sollte ein Mann von seinem Kaliber anders gehandelt haben?
    Schnee fiel auf die Malerei, auf das strenge Antlitz unseres Heilands, das einst unter meinen eilenden Pinselstrichen zu flammendem Leben erwacht war, wie durch Zauberei, ein Antlitz, dessen strenge, glatte Lippen und sacht gerunzelte Brauen nur Liebe ausdrückten. Christus, mein HERR, konnte auf den Mosaiken der Markuskirche noch viel ernster schauen. Auf vielen alten Gemälden sah er so streng aus. Doch mein Christus, mein HERR, gleichgültig, in welchem Stil und wie man ihn malte, war für mich immer nur völlige, uneingeschränkte Liebe. Der Schnee fiel nun in wirbelnden Flocken und schien auf dem Antlitz des HERRN zu schmelzen. Ich sorgte mich um das Bild, diese zerbrechliche Holztafel. Das glänzende, gelackte Abbild sollte für alle Zeiten seinen Glanz entfalten. Aber meine Mutter dachte ebenfalls daran, deshalb beeilte sie sich, ihren Umhang schützend darüber zu breiten. Ich habe die Ikone nie wieder gesehen.
    Aber wer muss mich nun noch fragen, welch tiefe Bedeutung eine Ikone für mich hat? Und als ich auf dem Schweißtuch der Veronika das Antlitz Christi vor mir sah, als Dora es vor mir ausbreitete, dieses Tuch, das Lestat von der Leidensstunde Christi aus Jerusalem mitbrachte. Lestat, der es, durch die Hölle auf die Erde zurückgekehrt, mitbrachte, musste da noch jemand fragen, warum ich auf die Knie sank und rief: »Es ist der HERR!«?

11
     
    D ie Rückreise von Kiew war wie ein Sprung vorwärts in der Zeit, hin zu dem Ort, an den ich wirklich gehörte.
    Wieder zu Hause, schien ganz Venedig im gleichen Glanz zu strahlen wie das goldene Gemach, das mein Grab war. Benommen brachte ich die Nächte damit zu, allein oder zusammen mit Marius, umherzustreifen, die frische Adrialuft in tiefen Zügen einzuatmen und die wunderbaren Häuser und öffentlichen Bauten aufs Neue zu studieren, an die ich mich während der letzten Jahre eigentlich schon gewöhnt hatte.
    Abendgottesdienste zogen mich an wie Honig die Fliegen. Ich sog die Gesänge des Chors, den Singsang der Priester in mich ein, aber ganz besonders genoss ich die freudig sinnliche Haltung der Gläubigen, als wäre das Ganze eine heilende Salbe für die Teile meines Geistes, die geschunden und blutig waren von meinem Besuch in dem Höhlenkloster.
    Doch in meinem tiefsten Herzen hegte ich eine zähe, heiße Flamme des Respekts für die russischen Mönche des Höhlenklosters. Da ich die wenigen Sätze des heiligen Bruders Isaak erhascht hatte, wandelte ich mit der lebendigen Erinnerung an seine Lehren einher - Bruder Isaak, der ein Tor um Gottes willen gewesen war, und ein Einsiedler, ein Geisterseher, das Opfer des Teufels und endlich der Bezwinger des Teufels im Namen Christi.
    Meine Seele war religiös geprägt, ohne Zweifel, und nachdem ich zwei unterschiedliche Formen der Religiosität kennen gelernt hatte, lagen diese beiden Formen im Widerstreit, und ich führte somit einen Krieg gegen mich selbst. Denn obwohl ich nicht vorhatte, den Luxus und die Herrlichkeiten Venedigs aufzugeben oder die ewige, leuchtende Schönheit in Fra Angelicos bildlichen Lehren,

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