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Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Titel: Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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diese Schläge ganz anders als früher, als ich noch sterblich war. Ich war stärker, nicht so empfindlich, aber für einen Sekundenbruchteil durchbrach jeder Schlag meinen übernatürlichen Schutzwall und verursachte eine winzige, köstliche Schmerzexplosion.
    Ich war stinkwütend. Ich versuchte, vom Bett zu entkommen, und hätte ihn gern geschlagen, so sehr verärgerte mich seine Behandlung. Aber er drückte mir sein Knie in den Rücken und schlug mich so lange mit der Rute, bis ich laut schrie.
    Dann endlich hörte er auf, und zerrte mich beim Kragen auf die Füße. Ich bebte vor unbändiger Wut und Verwirrung.
    »Mehr davon?«, fragte er.
    »Ich weiß noch nicht«, sagte ich, wobei ich seinen Arm zur Seite stieß, was er lächelnd geschehen ließ. »Vielleicht ja. In der einen Minute ist dir mein Seelenleben ungeheuer wichtig, in der anderen bin ich ein Schulkind für dich. Ist es so?«
    »Du hast Zeit genug gehabt, zu trauern und zu weinen«, sagte er, »und die Gaben neu zu bewerten, die dir verliehen wurden. Nun heißt es zurück an die Arbeit. Geh zum Pult und nimm Stift und Papier. Oder es gibt noch mehr Prügel!« Ich ließ eine wortreiche Tirade vom Stapel. »Ich lass mich von dir nicht so behandeln, es gibt nicht die geringste Notwendigkeit dafür. Und was sollte ich schreiben? In meine Seele habe ich ganze Bände eingeritzt! Du denkst, du kannst mich in den langweiligen, unbedeutenden Tagesablauf eines gehorsamen Schülers zwingen, du meinst, das sei passend für die umwälzenden Ideen, über die ich grüble, du denkst -«
    Er versetzte mir ein Ohrfeige. Mir schwindelte. Als sich mein Blick klärte, sah ich ihm in die Augen.
    »Ich möchte, dass sich deine Aufmerksamkeit wieder auf mich richtet«, befahl er, »ich möchte, dass du aus deinen Meditationen aufwachst. Geh zum Pult und schreib eine Zusammenfassung für mich, darüber, welche Bedeutung die Reise nach Russland für dich hatte und was du hier nun wahrnimmst, was dir davor verborgen gewesen ist. Schreib schlüssig, benutze deine besten Vergleiche und Metaphern, und schreib sauber und schnell.«
    »Was für eine plumpe Taktik«, murrte ich vor mich hin. Doch ich spürte noch das Pochen der Hiebe, ganz anders als der Schmerz, den der Körper eines Sterblichen empfand. Aber es war ein unangenehmes Gefühl, und ich verabscheute es.
    Ich ließ mich am Pult nieder. Ich würde etwas wirklich Flegelhaftes schreiben, wie zum Beispiel: »Ich habe gelernt, dass ich der Sklave eines Tyrannen bin.« Aber als ich aufsah und ihn mit der Rute in der Hand dort stehen sah, änderte ich meine Meinung.
    Er wusste, es war genau der richtige Moment, zu mir zu kommen und mich zu küssen. Und als er kam, merkte ich, dass ich ihm mein Gesicht schon entgegengehoben hatte, ehe er sich noch zu mir beugte. Aber das hielt ihn nicht davon ab.
    Ich empfand das überwältigende Glücksgefühl, das darin lag, ihm nachzugeben. Ich hob die Arme und legte sie um seine Schultern. Ein langer, süßer Augenblick, dann ließ er mich los, und ich schrieb dann doch, schrieb viele Sätze, die erklärten, was ich vorhin zu sagen versucht habe. Ich schrieb über meinen inneren Kampf zwischen den Sinnenfreuden und der Askese, ich schrieb über meine russische Seele, die die höchste Stufe der Erhebung zu erreichen suchte. Beim Malen der Ikonen war sie mir zuteil geworden, aber die Schönheit der Ikonen hatte auch das Bedürfnis nach sinnlichen Reizen befriedigt. Und als ich schrieb, erkannte ich zum ersten Mal, dass in dem alten russischen Stil, in dem byzantinischen Stil ebenfalls zwei Dinge miteinander im Kampf lagen, nämlich Sinnlichkeit und Askese, da die Gestalten in unterdrückter Körperlichkeit dargestellt wurden - flach, streng in der Form, jedoch in intensiven Farben - und so dem Auge höchstes Entzücken bereiteten, während sie gleichzeitig Entsagung ausdrückten. Mein Herr ging fort, während ich schrieb. Ich merkte es, aber es machte mir nichts aus. Ich war ins Schreiben vertieft, und nach und nach entfernte ich mich von meiner analytischen Übung und begann eine alte Sage zu erzählen:
    Einstmals, als die Russen noch nichts von Jesus Christus gehört hatten, sandte der große Fürst Wladimir von Kiew - damals war Kiew eine überragende, herrliche Stadt - Boten aus, um die drei Religionen unseres HERRN zu studieren: den Islam, den diese Männer für wahnwitzig und übel hielten; das römische, vom Papst beherrschte Christentum, in dem sie keine Herrlichkeit erkennen konnten;

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