Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
hatte.
Sein Antlitz, Sein männliches Gesicht, durchdrungen von Göttlichkeit, mein tragischer Herr, der mich vom Arm seiner Mutter herab anschaute, als ich im gefrorenen Schnee jener längst vergangenen Straße in Podil stand, mein liebender Herr in blutiger Majestät. Mir war gleich, was Dora sagte.
Mir war gleich, dass sie Seinen Heiligen Namen hinausschrie. Mir war es gleich. Ich wusste Bescheid. Und als sie ihren Glauben beteuerte, als sie Lestat das Schweißtuch aus den Fingern riss und damit aus der Wohnung rannte, folgte ich ihr, rannte hinter ihr her, hinter dem Schweißtuch her, obwohl ich mich tief im heiligsten Innern meines Herzens nicht bewegte.
Ich war starr.
Eine große Stille hatte sich meines Geistes bemächtigt, und meine Glieder hatten keine Bedeutung mehr.
Es war auch bedeutungslos, dass Lestat mit ihr herumstritt und sie warnte, nicht an dieses Ding zu glauben, und dass wir drei auf den Stufen der Kathedrale standen, und der Schnee wie ein herrlicher Segen aus dem unsichtbaren, unergründlichen Himmel fiel. Es war auch bedeutungslos, dass die Sonne bald aufgehen würde, ein feuriger, silberner Ball hinter einem Baldachin aus zerfließenden Wolken.
Jetzt konnte ich ruhig sterben.
Ich hatte IHN gesehen, und alles andere - die Worte Memnochs und seines fantastischen Gottes, Lestats flehendes Bitten, dass wir uns entfernen sollten, dass wir uns verbergen mussten, ehe die Morgensonne uns alle verschlang - es war bedeutungslos. Ich konnte nun ruhig sterben.
»Nicht von Menschenhand gemacht«, murmelte ich.
Vor dem Kirchenportal strömten die Leute zusammen. Ein köstlicher Strom warmer Luft drang aus dem Kircheninnern. Auc h das war bedeutungslos.
»Das Schweißtuch! Das Schweißtuch!«, tönte es. Sie sahen es! Sie sahen Sein Antlitz! Lestats verzweifelte, drängende Rufe erstarben. Die Morgensonne stieg empor, ihr dröhnendes, weiß glühendes Licht schob sich über die Dächer heran, verquirlte sich auf tausenden verglaster Flächen mit dem nächtlichen Dunkel und entfesselte dann seine fürchterliche Herrlichkeit.
»Bezeugt es!«, sagte ich. Ich streckte die weit geöffneten Arme dem blendenden Licht entgegen, diesem silbernen Schmelzfluss des Todes. »Dieser Sünder stirbt für IHN! Dieser Sünder geht zu IHM ein.« Schleudere mich in die tiefste Hölle, HERR, wenn es Dein Wille ist. Du hast mir den Himmel geschenkt. Du hast mir Dein Antlitz gezeigt. Und es war ein menschliches Antlitz.
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I ch schoss aufwärts. Ich fühlte den Schmerz umfassend und überall, er versengte jeden Willen, jede Fähigkeit, die Geschwindigkeit zu bestimmen. In mir explodierte etwas und trieb mich himmelwärts, hinein in das perlweiße, schneeige Licht, das plötzlich wie eine glühende Flut über mich hereinbrach und seine endlosen Strahlen über die Silhouette der Stadt ausgoss. Immer ist es so: Im einen Moment noch ein drohendes Auge, steigert sich das Licht zu einer Woge schwereloser, flüssiger Helligkeit, die alles, groß und klein, überschwemmt.
Wie ein Kreisel schoss ich immer höher empor, als ob der durch die innerlichen Explosionen entstandene Schub gar nicht mehr nachließe, und mein Grausen wurde noch verstärkt, als ich sah, dass mir die Kleider vom Leib gebrannt worden waren und Rauchwölkchen von meinen Gliedern aufstiegen und vom scharfen Wind fortgewirbelt wurden.
Mit einem Blick sah ich, dass meine bloßen, abgespreizten Arme, die zappelnden Beine - eine schwarze Silhouette vor dem zerstörerischen Licht - schon verbrannt waren. Das Fleisch glänzte schwarz und war wie mit den Sehnen und Muskeln verschweißt, die meine Knochen umschlossen.
Der Schmerz hatte den Höhepunkt des Erträglichen erreicht, aber wie kann ich erklären, dass es für mich nicht von Bedeutung war? Ich ging meinem Tode entgegen, und diese scheinbar endlose Qual war nichts, gar nichts. Ich konnte alles ertragen, selbst das Brennen in den Augen, die Gewissheit, dass sie bald in diesem Sonnenfeuerofen zerfließen oder zerspringen würden und dass mein Ich bald dieses Fleisch hinter sich lassen würde.
Abrupt änderte sich meine Umgebung. Das Heulen des Windes hatte aufgehört, meine Augen sahen wieder, und rings um mich erhob sich der vertraute Klang gewaltiger Choräle. Ich stand vor einem Altar, und als ich den Kopf hob, sah ich eine überfüllte Kirche. Ihre bemalten Säulen ragten wie geschmückte Stämme aus einem Wald singender Münder und staunender Augen. Überall hin, nach links und rechts, erstreckte
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