Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
im Himmlischen Hof aufgenommen zu werden.
Wie viele Sterbliche, die aus einem todesähnlichen Schlaf erwacht sind, haben diese Wunder schon zu beschreiben versucht! Wie viele Heilige behaupten, dieses unbeschreibbare, ewige Eden erschaut zu haben?
Und wie klug dieser Teufel Memnoch seinen Fall dargelegt hatte, in dem er um sterbliches Mitleid für seine Sünde bat, die darin bestand, dass er, und er allein, sich einem gnadenlosen, gleichgültigen Gott entgegengestellt und ihn gebeten hatte, mit Mitgefühl auf die dem Fleisch verhaftete Spezies niederzuschauen! Eine Spezies, die es fertig gebracht hatte, mittels ihrer Fähigkeit zu selbstloser Liebe Seelen zu entwickeln, die Seiner Anteilnahme würdig waren.
Das also war der Sündenfall Luzifers, und er fiel, als falle der Morgenstern vom Himmel. Ein Engel, der für die Söhne und Töchter der Menschen bat, da sie nun an Gestalt und Herz wie die Engel waren.
»Öffne ihnen das Paradies, Herr, wenn sie in meiner Schule gelernt haben, deine ganze Schöpfung zu lieben, dann öffne ihnen das Paradies.«
Ach, ein ganzes Buch ist aus diesem Abenteuer entstanden, Memnoch, der Teufel, und man kann es nicht so ärmlich in ein paar kurzen Abschnitten wiedergeben.
Aber das war in etwa das Fazit, das ich aus dem Gehörten zog, während ich in diesem kühlen New Yorker Zimmer saß und an dem wild erregten Lestat vorbei in den unaufhörlich fallenden Schnee schaute. Der tosende Gefühlssturm bei seiner Erzählung verschloss meine Ohren vor dem Gelärme der unter uns liegenden Stadt, und die ganze Zeit kämpfte ich mit der unangenehmen Furcht, dass ich ihn auf dem Höhepunkt der Geschichte enttäuschen musste. Dass ich ihn daran erinnern musste, dass er nichts anderes gemacht hatte, als die mystischen Erlebnisse unzähliger Heiliger in eine neue, besser verdauliche Form zu bringen.
Eine Schule ersetzt die Kreise des ewigen Feuers, die uns Dante schon so Übelkeit erregend beschrieben hat, und selbst der zart fühlende Fra Angelico fühlte sich bemüßigt, auf seinen Bildern nackte Sterbliche in die Leiden des ewigen Höllenfeuers zu schicken. Eine Schule, ein Ort der Hoffnung, ein Versprechen auf Erlösung, so umfassend vielleicht, dass sogar wir, die Kinder der Nacht, willkommen waren, obwohl unser Sündenregister nicht weniger Morde enthielt, als sie die alten Hunnen oder Mongolen begangen hatten.
Ach, es war irgendwie herzerwärmend, dieses Bild eines Lebens im Jenseits - man überlässt die Schrecknisse der Natur einem weisen, aber distanzierten Gott und interpretiert die Narrheiten des Teufels mit tiefstem Verständnis.
Wäre es doch wahr, wäre doch alle Poesie und alle Malerei nur ein Spiegel solch glanzvollen Hoffens!
Ich war darüber so betrübt so niedergeschlagen, dass ich ihn kaum anschauen konnte.
Aber ein Punkt seiner Erzählung, für ihn nur eine zufällige Begleiterscheinung, ragte drohend über allem anderen auf und heftete sich so sehr in meinem Geist fest, dass ich, während Lestat weiter und weiter sprach, immer nur daran denken konnte: dass er. Lestat, auf der Straße zum Kalvarienberg das Blut Christi getrunken hatte. Dass er mit dem Leibhaftigen Gott gesprochen hatte, der aus freiem Willen diesem grausamen Tod auf Golgatha entgegenschritt. Dass er. Lestat, ein von Furcht ergriffener, zitternder Zeuge, dort in den engen, staubigen Straßen des alten Jerusalem stehen musste, um Unseren HERRN vorbeiziehen zu sehen, und dass dieser. Unser HERR, der Lebendige Gott, der das Kreuz auf den Schultern trug, ihm. Lestat, dem auserwählten Schüler, seine Kehle dargeboten hatte.
Ach, Einbildung, Wahnsinn, nichts als Einbildung! Ich hatte nicht erwartet, dass mich etwas an seiner Geschichte so verletzen könnte, dass ich ein Brennen in der Brust verspürte, dass meine Kehle wie zugeschnürt war, so dass ich kein Wort sprechen konnte. Das hatte ich nicht gewollt. Nur eine einzige Linderung gab es für mein gekränktes Herz: der Gedanke, wie kurios und albern es war, dass in einer solchen Szene - Jerusalem, die staubigen Straßen, die zornige Menschenmenge, der blutende Gott, zerschrammt und unter dem Gewicht des Holzes strauchelnd -eine reizende, alte Legende vorkommen sollte: eine Frau, die ihren Schleier hinreicht, um mit tröstlicher Geste das Blut vom Antlitz Christi zu tupfen, und so für alle Zeit Sein Bild hineinprägt. Man muss nicht wie David ein Gelehrter sein, um zu wissen, dass solche Heiligen andere Heilige schufen, die in späteren Jahrhunderten
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