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Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Titel: Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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schon, da alle Welt das gleiche Lied anstimmte? Eine Hand packte mich. Grob, gemein, sie zerrte an meinem weißen Ärmel. Ich wandte mich um und sog den Atem ein zu einem lauten Schrei - doch dann erstarrte ich vor Schreck.
    Ein Mann stand neben mir, wie aus dem Nichts gekommen, so nah war er, dass sich unsere Gesichter fast berührten. Er funkelte mich an. Ich kannte dieses rote Haar, die feurigen, respektlosen, blauen Augen. Ich wusste es, das war mein Vater, aber eigentlich war er nicht mein Vater, sondern eine Schrecken erregende, mächtige Anwesenheit, die hinter den Zügen meines Vaters lauerte. Da stand sie, fest neben mir verankert, und böse auf mich niederblickend, verhöhnte sie mich mit ihrer Macht und ihrer Größe.
    Er streckte die Hand aus und schlug mit dem Handrücken heftig gegen den goldenen Kelch, der schwankte und dann fiel, so dass der geweihte Wein die Brotkrumen und das Altartuch aus gesponnenem Gold befleckte.
    »Aber das geht nicht!«, rief ich. »Was hast du getan?« Vernahm denn niemand meine Schreie über dem lauten Gesang? Konnte mich niemand hören, waren die Glocken zu laut?
    Ich war allein.
    Ich stand in einem modernen Zimmer mit weißer, getünchter Zimmerdecke. Ich stand in einem bewohnten Raum.
    Ich war wieder ich selbst, eine schmächtige, männliche Gestalt mit wirren, schulterlangen Locken und weißen Spitzenrüschen unter einem purpurnen Samtjackett. Ich stand gegen die Wand gelehnt, erstarrt und still. Ich wusste nur eins, dass jedes Atom in diesem Raum, jedes Atom an mir so solide und real war wie noch einen Sekundenbruchteil zuvor.
    Der Teppich unter meinen Füßen war ebenso real wie die grünen Blätter, die wie Schneeflocken durch die riesige Kathedrale geschwebt waren, und meine Hände, meine unbehaarten, jungenhaften Hände, auch sie waren nicht weniger real als die Brot brechenden Priesterhände, die ich einen Augenblick zuvor besessen hatte. In meiner Kehle staute sich ein Schluchzen, ein entsetzlicher Schrei, den ich bestimmt selbst nicht aushalten konnte. Aber wenn ich nicht schrie, würde ich ersticken, und dieser Körper, verdammt oder geheiligt, sterblich oder unsterblich, rein oder verderbt, dieser Körper würde bestimmt zerspringen.
    Es gab nur einen Trost - eine Melodie. Ein Musikstück baute sich auf, rein und klar, und so ganz anders als der erhabene, fugenlose, herrliche Chor, den ich kurz zuvor noch vernommen hatte. Aus der Stille heraus sprangen mich diese vollkommen gefügten, einzelnen Töne förmlich an, ein Überfluss kaskadenartig sich überstürzender Töne, die scharf und unmittelbar ins Ohr drangen, wie in köstlichem Trotz gegenüber der aufschäumenden Klangfülle, die ich so geliebt hatte. Ach, zu denken, dass diese Töne allein mit zehn Fingern einem hölzernen Instrument entlockt wurden, in dem ein Hammer in sturem, starren Fall auf eine bronzene Harfe aus straff gespannten Saiten schlug!
    Und ich kannte es, ich kannte das Stück. Ich kannte die Klaviersonate. Ich hatte sie durchaus gemocht, aber nun lahmte mich ihre wilde Wut. Appassionata. In überwältigenden, vibrierenden Arpeggios stiegen und fielen die Töne, trommelndes, grollendes Staccato donnerte abwärts, bis sie ansteigend wieder in rasende Geschwindigkeit verfielen. Die Melodie schien ohne Ende, ausdrucksstark, feierlich und so ganz menschlich, verlangte von einem, dass man sie sowohl hörte als auch fühlte, verlangte, dass man ihr in jede komplizierte Wendung und Schleife folgte.
    Appassionata.
    In dem feurigen Sturm der Töne hörte ich den Klang des Holzes widerhallen, ich hörte das Vibrieren des Bronzerahmens. Ich hörte das summende Pochen unzähliger Saiten. Ach, ja, weiter und weiter und weiter und weiter, lauter, heftiger, immer rein und immer vollkommen, so schnellten die Töne hervor und rollten dann zurück, als könnten Töne eine Peitsche sein. Wie können menschliche Hände solche Verzückung hervorrufen, wie können sie aus elfenbeinernen Tasten eine solche Tonflut, diese brausende, donnernde Schönheit hervorzaubern?
    Die Musik hörte auf. In tiefster Qual schloss ich die Augen und stöhnte leise, stöhnte, weil mir diese vehementen, kristallklaren Töne fehlten, diese lautere, reine Schärfe des Klanges, diese Töne, die wortlos zu mir sprachen, um mein Zeugnis baten und darum, dass ich die eindringliche, anspruchsvolle Ekstase eines anderen verstehen und teilen sollte.
    Ein Schrei ließ mich zusammenzucken. Ich öffnete die Augen. Ich stand in einem großen

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