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Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Titel: Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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zur Neige.
    Wieder und wieder riss ich die weiche Kruste auf, legte die Stücke in ausgestreckte Hände, in anmutig gekrümmte Finger.
    »Nehmt es, es ist der Leib Christi!«, sagte ich.
    Wogende Schatten stiegen um mich empor, erhoben sich aus dem schimmernden Gold und Silber des Bodens. Baumstämme waren es, deren Äste sich emporstreckten und sich dann zu mir neigten, und von den Zweigen fielen Blätter und Beeren auf den Altar, auf den goldenen Teller und das geweihte Brot.
    »Sammelt sie auf!«, rief ich und nahm die samtigen grünen Blätter und würzigen Eicheln und reichte sie den eifrigen Händen. Plötzlich sah ich, dass Getreidekörner durch meine Finger rannen, und auch die bot ich den geöffneten Lippen dar und schüttete sie in offene Münder. Lautlos fielen in dichtem Strom die grünen Blätter nieder, so dass alles ringsum in glänzend grün schillernde Schatten getaucht war, die aufrissen, als plötzlich kleine Vögel angeflogen kamen. Millionen Spatzen huschten himmelwärts, Millionen Finken flogen auf, so dass die gleißende Sonne auf ihren ausgestreckten Flügelchen glitzerte. »Auf ewig, fortwährend, immerdar in jeder Zelle und jedem einzelnen Atom«, predigte ich. »Die Inkarnation. Und der Herr weilte unter uns.« Die Worte schallten, als gäbe es ein Dach, an dem mein Gesang widerhallen konnte, wo doch nur der offene Himmel unser Dach war. Immer noch drängte die Menge, schloss den Altar in ihrer Mitte ein. Meine Brüder waren fortgeschlüpft, als tausend Hände sanft an ihren Messgewändern zupften und sie vom Tisch des HERRN fortzogen. Ringsum drängelten sich die Hungrigen, nahmen das Brot von mir entgegen, die Körner und die Eicheln gleich händeweise, und selbst die grünen Blätter nahmen sie.
    Und da, an meiner Seite, stand meine Mutter, meine schöne, traurig blickende Mutter, ein fein bestickter Kopfputz zierte ihr dichtes, graues Haar, ihre kleinen, von Fältchen umgebenen Augen hielt sie fest auf mich gerichtet, und ihre zitternden Hände mit den runzligen, furchtsamen Fingern hielten die schönste Opfergabe - die gefärbten Eier! Rot und Blau und Gelb und Gold und dazwischen Rautenmuster und Blumenketten. Die Eier schimmerten mit einem so herrlichen Glanz, als wären sie geschliffene Riesenedelsteine.
    Und da, in der Mitte des Opfers, das sie mir mit ihren faltigen, bebenden Armen entgegenstreckte, da lag genau das Ei, das sie mir vor so langer Zeit anvertraut hatte, das kleine rohe Ei, so wunderbar rubinrot mit dem goldenen Stern, der die Mitte eines ovalen Rahmens zierte, dieses Ei, das sicherlich ihre schönste Schöpfung war, das Schönste, was sie in all ihren Stunden, die sie, über heißes Wachs und kochende Farbe gebeugt, vollbracht hatte.
    Es war nicht verloren gegangen. Hier war es ja. Aber etwas kündigte sich an. Ich konnte es hören. Selbst über die rauschenden Chöre der Menge hinweg konnte ich es hören - ein winziges Geräusch klang aus dem Ei, ein sachtes Flattern, ein leiser Schrei. »Mutter«, sagte ich. Ich nahm das Ei. Ich hielt es mit beiden Händen und drückte die Daumen gegen die spröde Schale.
    »Nein, mein Sohn!«, rief sie. Sie jammerte. »Nein, nein, mein Sohn, nein!«
    Aber zu spät. Die glänzende Schale zersprang unter meinen Daumen, und zwischen den zerbrochenen Schalen kam ein Vogel hervor, ein wunderschöner, ausgewachsener Vogel, schneeweiß die Flügel, gelb der kleine Schnabel und glänzend schwarz die Augen, wie kleine, runde Kohlestückchen.
    Ich stieß einen langen, tiefen Seufzer aus.
    Und, den Schnabel aufgerissen zu einem jähen, schrillen Schrei, stieg er aus dem Ei hoch in die Luft empor, breitete die weiß gefiederten Schwingen. Und von der Schale befreit, schwang er sich auf und immer höher, hoch über die Köpfe der Gläubigen hinweg bis in den sanften Wirbel grüner Blätter, mitten zwischen die flatternden Spatzen, und inmitten glorreicher Glockenklänge flog er davon. Die Glocken klangen so laut, dass sie die herumschwirrenden Blätter in Schwingungen versetzten, so laut, dass die ragenden Säulen bebten, dass die Menge sich wiegte und noch ergreifender sang als zuvor, in dem Wunsch nach der vollkommenen Eintracht mit dem widerhallenden Geläute der goldenen Glocken.
    Der Vogel war fort. Der Vogel war frei.
    »Christus ist geboren«, flüsterte ich, »Christus ist erstanden. Christus ist im Himmel und auf der Erde. Christus ist unter uns.«
    Aber niemand hörte meine Stimme, meine leise innere Stimme, doch was machte das

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