Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
Lass mich trinken, danach kann ich jede verdammte Einzelheit, die du erzählt hast, vergessen! Lass mich trinken!« Ich konnte mich kaum zurückhalten, ich war kurz davor, Hand an ihn zu legen, ihm meinen Willen aufzuzwingen, trotz seiner legendären Kraft und seines grässlichen Temperaments. Ich würde ihn umklammert halten und ihn zum Nachgeben zwingen. Ich würde mir das Blut nehmen - aber diese Gedanken waren dumm und hohl. Die ganze Geschichte war dumm und hohl, und doch drehte ich mich um und spuckte ihm die Worte wütend ins Gesicht:
»Warum hast du das Angebot nicht angenommen? Warum bist du nicht mit Memnoch gegangen, wenn er dich aus der schrecklichen lebenden Hölle holen konnte, die wir teilen? Warum nicht?«
»Sie haben dich entkommen lassen.« Du, David, wandtest dich an ihn, indem du mich mit einer kleinen, bittenden Geste unterbrachst. Aber mir fehlte die Geduld für Analysen oder unvermeidliche Interpretationen. Ich konnte das Bild nicht loswerden. Unser blutender HERR, unser HERR, mit dem Kreuzesbalken auf den Schultern, und sie, Veronika, diese liebliche Erscheinung mit dem Schweißruch in ihrer Hand. Ach, wie kommt es, dass sich diese Fantasievorstellung so fest in mir verankern konnte?
»Weg von mir, ihr alle!«, rief Lestat. »Ich habe das Schweißtuch. Christus gab es mir. Veronika gab es mir. Ich habe es aus Memnochs Hölle mitgebracht, obwohl seine kleinen Unholde versuchten, es mir fortzunehmen.«
Ich hörte kaum hin. Das Schweißtuch, das echte Tuch, war das ein Trick? Mein Kopf schmerzte. Die Frühmesse. Wenn sie in St. Patrick’s gefeiert wurde, wollte ich hin. Ich war diesen verglasten Turm leid, der den Geruch des Windes und den erfrischenden, feuchten Schnee ausschloss.
Warum drückte sich Lestat mit dem Rücken gegen die Wand? Was zog er da aus seinem Jackett? Das Schweißtuch! Ein flotter Trick, um dieses Meisterstück des Wahnsinns zu besiegeln?
Ich hob den Blick. Er glitt über die Scheiben mit der schneeverhüllten Nacht dahinter und fand nur langsam sein Ziel: das ausgebreitete Tuch, das Lestat in den Händen hielt, während er selbst den Kopf neigte, als er es so ehrerbietig zeigte, wie Veronika es wohl auch gehalten hätte. »Mein HERR!«, hauchte ich. Die Welt um mich hatte sich in Wogen aus Klang und Licht verwandelt. Ich sah IHN dort auf dem Tuch. »Mein HERR!« Ich sah SEIN Antlitz, nicht gemalt, gedruckt oder sonst irgendwie in die Fasern des feinen weißen Stoffs gebracht, sondern es glühte darauf mit einer Flamme, die doch das Material nicht verzehrte, das diese Hitze aufnahm. Mein HERR, mein HERR, der Mensch, mein HERR, mein Christus, der Mann mit der schwarzen Dornenkrone und den braunen, mit Blut verklebten Haaren und den großen, verwunderten, dunklen Augen, die sich direkt auf mich richteten, die lieblichen, lebhaften Tore zur Seele Gottes, sie strahlten in so unermesslicher Liebe, dass selbst der Dichter es nicht ausdrücken kann. Der weiche, glatte Mund bedingungslos und vorurteilsfrei in seiner Schlichtheit, geöffnet, um einen leisen, gequälten Atemzug zu machen, und in diesem Augenblick, da reichte sie das Tuch, um diese fürchterliche Qual zu lindern.
Ich weinte. Ich presste die Hand vor den Mund, aber ich konnte die Worte nicht zurückhalten. Ich flüsterte: »Ach, Christus, mein Christus in all seiner Tragik!« Dann rief ich aus: »Nicht von Menschenhand gemacht!« Wie jämmerlich meine Worte, wie schwach, wie kummervoll … »Das Antlitz dieses Mannes, dieses Gesicht, es zeigt Gott und Mensch gleichzeitig. Er blutet. Um der Liebe des Allmächtigen willen, seht es euch an!«
Aber nicht einen Ton hatte ich gesagt. Ich konnte mich nicht rühren. Mir stockte der Atem. Schock und Hilflosigkeit hatten mich auf die Knie sinken lassen. Ich wollte meine Augen nie wieder abwenden. Ich wollte nie wieder etwas anderes als dieses Abbild anschauen. Ich wollte meine Augen nie wieder davon lösen. Ich wollte mein Leben lang nichts anderes mehr. Ich wollte es nur noch anschauen. Ich wollte nur IHN noch anschauen, und ich sah IHN, und mein Blick glitt zurück über die Jahrhunderte, und ich sah Sein Antlitz im Licht der Tonlampe, die in dem Haus in Podil brannte. Seine Augen blickten mich aus dem hölzernen Paneel an, das ich in meinen bebenden Fingern hielt, als ich von Kerzen umgeben im Skriptorium des Höhlenklosters stand. Sein Antlitz, wie ich es nie auf jenen grandiosen Mauern Venedigs oder Florenz’ sah, wo ich so lange und so verzweifelt gesucht
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