Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
sie war alt, ja, sie war byzantinisch, wie so vieles in Venedig. »Unsere Schiffe haben mit Byzanz schon seit Jahrhunderten Handel getrieben. Wir sind ein seefahrendes Reich.« Ich mühte mich, das aufzunehmen.
Was mir trotz meines elenden Zustandes klar wurde, war, dass dieses Gebäude nicht speziell für mich als eine Bestrafung gedacht war. Man hatte mich genauso problemlos hinausbringen können, wie ich hineingegangen war. Die Jungen, die mich nun mit lieben Worten und sanften Händen umsorgten, die mir kühlen Wein und Früchte anboten, damit ich mich erholte, sie vergingen nicht in Furcht vor diesem Gebäude.
Als ich mich nach links wandte, fiel mein Auge auf die Kais und den Hafen. Ich sprang auf und lief hinüber, denn der Anblick der Schiffe traf mich wie ein Blitz. Zu viert oder fünft gestaffelt lagen sie vor Anker, und hinter ihnen spielte sich ein noch größeres Wunder ab: Ausladende Galeonen trieben mit windgeblähten Segeln hinaus aufs offene Meer, und ihre schlanken Ruder ließen das Wasser aufschäumen.
In dem dichten Schiffsverkehr kamen sich die hölzernen Barken gefährlich nahe, wenn sie durch die Hafenöffnung Venedigs glitten, während andere, nicht weniger elegant, an unmöglichen Stellen vor Anker lagen und Waren im Überfluss ausspien.
Meine Freunde führten mich zum Arsenal. Ich war immer noch unsicher auf den Beinen, und sie wollten mich erfreuen, indem sie mir zeigten, wie die großen Schiffe von ganz gewöhnlichen Menschen gebaut wurden. Später würde ich Stunden beim Arsenal zubringen und zuschauen, mit welchen sinnreichen Methoden Menschen so unerhört große Schiffe bauten, dass sie meiner Ansicht nach, wenn man es recht bedachte, hätten sinken müssen. Hin und wieder hatte ich eine blitzhafte Erscheinung: Ich sah vereiste Flüsse vor mir, mit Schleppkähnen und Flachbooten, sah grobe Gesellen, die nach Tierfett und ranzigem Leder rochen. Doch diese letzten bröckelnden Teile einer winterlichen Welt, aus der ich gekommen war, verblassten. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn mich nicht gerade Venedig aufgenommen hätte.
Während all meiner Jahre in Venedig wurde ich nie müde, das Arsenal zu besuchen und beim Schiffsbau zuzuschauen. Ich hatte keine Schwierigkeiten, Zutritt zu erlangen, sei es durch ein paar nette Worte oder durch ein paar Münzen, und immer wieder genoss ich es, zu sehen, wie diese fantastischen Bauten aus gekrümmten Rippen und gebogenem Holz und hoch aufragenden Masten zusammengerügt wurden. An jenem ersten Tag wurde ich jedoch in aller Eile durch diese Wunderwelt geschleust. Ich hatte genug erlebt.
Ja, Venedig war nun einmal der Ort, der, zumindest eine Zeit lang, die verbissene Qual einer früheren Existenz aus meinem Geist auslöschen musste, diese Anhäufung von Wahrheiten, denen ich nicht ins Auge sehen mochte.
Wäre es nicht Venedig gewesen, wäre auch mein Gebieter nicht da gewesen. Kaum einen Monat später zählte er mir ganz sachlich auf, was die einzelnen italienischen Städte für ihn zu bieten hatten, wie gern er in Florenz weilte, wo er den berühmten Bildhauer Michelangelo bei seiner Arbeit beobachtete, und wie oft er in Rom den ausgezeichneten Lehrern lauschte.
»Aber Venedig beherbergt die Künste von tausend Jahren«, sagte er, während er selbst den Pinsel an dem großen Paneel ansetzte, vor dem er stand. »Venedig ist in sich ein Kunstwerk, eine Metropole aus unglaublichen, tempelgleichen Wohnhäusern, die Seite an Seite lehnen wie Honigwaben, und von seinen bienenfleißigen Bewohnern aus reich wie Nektar fließenden Mitteln unterhalten werden. Sieh nur unsere Paläste, sie allein sind schon des Betrachtens wert.«
Im Laufe der Zeit unterwiesen er wie auch die anderen Lehrer mich in der Geschichte Venedigs. Dabei betonten sie besonders die Tatsache, dass es eine Republik war, die, wenn auch despotisch in ihren Entscheidungen und ausgesprochen feindselig gegen Außenstehende, dennoch eine Stadt der »Gleichen« war. Florenz, Mailand, Rom, in diesen Städten war eine kleine Elite an der Macht, oder auch mächtige Familienverbände oder ein Alleinherrscher, während Venedig, trotz all seiner Irrtümer, ein für alle Mal von seinen Senatoren, seinen mächtigen Kaufleuten und dem Rat der Zehn regiert wurde. An jenem ersten Tag wurde in mir eine ewig währende Liebe zu Venedig geboren. Es schien mir so absolut frei von Schrecknissen, ein Wärme spendendes Heim selbst noch für seine gut gekleideten, schlauen Bettler, eine Anhäufung
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