Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
sorgfältig beobachtet, während sie sprach. »Ich bin nicht daran gewöhnt, dass man mir glaubt«, sagte sie, »aber ich bin daran gewöhnt, dass die Leute Angst vor mir haben.«
»Wieso denn, Kind?«, fragte ich. Aber mit ihrer bemerkenswerten Haltung und ihrem durchdringenden Blick hatte sie mich schon genügend geängstigt, so dass ich die Antwort kannte. Wozu war sie fähig? Würde ich das je erfahren? Es war an jenem ersten Abend nur eine Überlegung wert gewesen, denn üblicherweise ermutigen wir unsere Waisen nicht, ihren gefährlichen Fähigkeiten freien Lauf zu lassen. In dieser Hinsicht blieben wir lieber untätig. Ich hatte meine unziemliche Neugier also gebannt und mich darauf konzentriert mir, wie es damals meine Art war, ihr Äußeres einzuprägen, indem ich jedes Merkmal ihres Gesichts und ihrer Gestalt sorgfältig betrachtete.
Sie hatte schön geformte Gliedmaßen. Ihre Brüste waren schon überaus reizend, und ihre Gesichtszüge waren ohne einen eindeutigen Hinweis auf die afrikanische Abstammung geschnitten - der gut geformte Mund groß, groß auch die mandelförmigen Augen, und die Nase war lang. Auch ihr Hals war lang und sehr anmutig. Selbst wenn sie tief in Gedanken versunken war, blieben ihre Gesichtszüge harmonisch.
»Behalten Sie Ihre Geheimnisse von den weißen Mayfairs für sich«, hatte sie gesagt. »Vielleicht können wir ja eines Tages unsere Geheimnisse austauschen, Sie und ich. Die wissen heute nicht einmal, dass wir noch existieren. Die Große Nananne sagte, dass Onk el Julien gestorben sei, noch ehe sie selbst zur Welt kam. In dem Traum hat er nicht ein Wort über die weißen Mayfairs verloren. Er sagte nur, dass ich hierher kommen solle.« Sie hatte auf die alten Bilder gezeigt. »Das ist meine Familie. Wenn ich zu den weißen Mayfairs hätte gehen sollen, hätte die Große Nananne es schon früher vorhergesehen.« Sie machte eine nachdenkliche Pause. »Sprechen wir von den alten Zeiten!« Sie hatte die Daguerreotypien nebeneinander auf dem Mahagonitisch ausgebreitet. Nun wischte sie die abbröckelnden Splitter sorgfältig mit der Hand fort. Und dann bemerkte ich, dass die Bilder von ihrer Seite aus auf dem Kopf standen, so dass sie für Aaron und mich richtig herum lagen.
»Manche weiße Verwandte haben schon versucht, Dokumente zu vernichten«, sagte sie. »Wissen Sie, die haben Seiten aus dem Kirchenregister gerissen, aus denen hervorging, dass ihre Urgroßmutter eine Farbige war. Femme de couleur libre, so steht es in manchen alten Aufzeichnungen auf Französisch. Stellen Sie sich nur vor, historische Aufzeichnungen zu zerreißen, ganze Seiten aus dem Kirchenregister mit den Geburten und Sterbefällen und Ehe schließungen - und die wollen nichts davon wissen! Stellen Sie sich vor, sie sind in das Haus meines Urgroßonkels gekommen und haben die Fotoplatten zerbrochen, Bilder, die man sicher irgendwo aufbewahren müsste, damit viele Leute sie sehen können.« Merrick seufzte, als wäre sie eine erschöpfte Erwachsene, während sie ihren Blick auf ihre Trophäen senkte. »Jetzt habe ich die Bilder. Ich habe alle Unterlagen, und ich bin bei Ihnen, und niemand kann mich finden. Die anderen können nichts mehr fortwerfen.«
Wieder hatte sie ihre Hand in der Schachtel versenkt und hatte cartes de visite hervorgezogen - alte Fotografien, auf Pappe aufgezogen, die aus den letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts stammten. Sie wendete sie um, so dass ich die hohen, schräg geneigten Lettern in verblasstem Purpur auf dem Rücken der Bilder erkennen konnte.
»Sehen Sie, das hier ist Onkel Vervain«, sagte sie, und ich betrachtete den mageren, gut aussehenden jungen Mann mit der dunklen Haut und den schwarzen Haaren, dessen Augen genauso hell waren wie Merricks. Es war ein recht malerisches Porträt. Die Fotografie in kräftigen Sepiatönen zeigte ihn in einem eleganten Westenanzug vor einem gemalten Himmel, einen Arm auf eine griechische Säule gelehnt. Mund und Nase waren schön geformt, verrieten aber eindeutig die afrikanische Abstammung. »Also, auf diesem hier steht 1920.« Merrick zeigte die Rückseite des Bildes, drehte es dann wieder um und legte es richtig herum vor uns nieder, damit wir es betrachten konnten. »Onkel Vervain war ein Voodoo-Doktor«, erzählte sie dabei. »Und ich kannte ihn gut. Ich war noch klein, als er starb, aber ich werde ihn nie vergessen. Er konnte tanzen und den Rum im hohen Bogen zwischen seinen Zähnen hervor bis auf den Altar sprühen,
Weitere Kostenlose Bücher