Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
froh, dass du nun bei uns bist.«
»So ähnlich spricht auch die große Nananne«, antwortete sie. Und zum ersten Mal verzog sie ihre vollen Lippen zu einem echten Lächeln.
Meine Gedanken waren zu den unvergleichlichen dunkelhäutigen Frauen gewandert, die ich in Indien gesehen hatte, obwohl Merrick mit ihrem schweren mahagonibraunen Haar und den hellen, ausdrucksvollen Augen ein ganz anderer Typ war. Wieder dachte ich, dass dieses barfüßige Mädchen in dem geblümten Kleid auf viele Leute exotisch wirken musste. Dann hatte mich einen Moment lang eine völlig irrationale Empfindung im Griff, die so stark war, dass ich sie nicht einfach fortwischen konnte. Ich hatte die vielen auf dem Tisch aufgereihten Gesichter gemustert, und mir war es vorgekommen, als ob sie mich alle anschauten. Es war ein ganz intensives Gefühl. Die kleinen Porträts waren die ganze Zeit über lebendig gewesen! Es muss durch das flackernde Feuer und die Öllampen kommen, dachte ich wie im Traum, aber ich war nicht in der Lage, das Gefühl abzuschütteln. Nein, Merrick hatte diese Leute da hingelegt, weil sie Aaron und mich anschauen sollten. Selbst in der Anordnung der einzelnen Bilder schien eine heimtückische Absicht oder eine seltsame Bedeutung zu liegen, so vermutete ich, und gleich darauf erlag ich dem einschläfernden, friedvollen Gefühl, mich in einer Audienz vor einer Anzahl Toter zu befinden. Ich kann mich erinnern, dass Aaron wie zur Antwort murmelte: »Sie scheinen uns tatsächlich anzuschauen«, obwohl ich ganz sicher wusste, dass ich nichts gesagt hatte. Die Uhr hatte aufgehört zu ticken, und ich drehte mich suchend nach ihr um. Ah ja, auf dem Kaminsims befand sie sich, und ihre Zeiger standen still, und die Fensterscheiben erzeugten dieses gedämpfte Klirren, das entsteht, wenn der Wind sich dagegenstemmt, und das Haus umfing mich mit seiner Atmosphäre von Warmherzigkeit und Geheimnissen, von Sicherheit und Zuflucht, von Verträumtheit und gebündelter Macht.
Eine lange Zeitspanne schien vergangen zu sein, ohne dass einer von uns gesprochen hatte, und Merrick fixierte erst mich und dann Aaron. Ihre Hände lagen reglos auf dem Tisch, und ihr Gesicht schimmerte im Lichtschein.
Mit einem Ruck kam ich zu mir und bemerkte, dass sich nichts im Raum verändert hatte. War ich kurz eingeschlafen? Welch unverzeihlich unhöfliches Benehmen! Aaron saß wie zuvor neben mir. Und die Bilder waren wieder unbelebt - ein förmliches, nicht weniger deutliches Zeugnis der Sterblichkeit, als hätte Merrick mir Schädel aus verfallenen Gräbern zur Ansicht hingelegt. Dieses Gefühl der Beunruhigung jedoch hing mir noch lange, nachdem wir alle unsere Zimmer aufgesucht hatten, nach. Heute, zwanzig Jahre und viele seltsame Augenblicke später, saß sie mir gegenüber an diesem Cafétisch in der Rue St. Anne - eine Schöne, die einen Vampir betrachtete. Wir sprachen im flackernden Licht der Kerze miteinander, und dieses Licht ähnelte sehr dem Licht jenes längst vergangenen Abends in Oak Haven, nur dass dieser feuchte Frühlingsabend nicht von drohendem Unwetter kündete.
Merrick trank ihren Rum, rollte ihn langsam im Mund herum, ehe sie ihn schluckte. Aber sie konnte mich nicht täuschen. Sie würde schon bald wieder hastiger trinken. Sie setzte das Glas nieder und spreizte die Finger auf dem schmuddeligen Marmor. Ringe! Sie trug die vielen Ringe der Großen Nananne, schöne goldene Filigranarbeiten mit wunderbaren Steinen. Merrick hatte sie sogar im Dschungel getragen, was ich für sehr unklug gehalten hatte. Doch sie hatte nie dazu geneigt, sich vor irgendetwas zu fürchten.
Ich dachte daran, wie sie in jenen tropischen Nächten gewesen war, dachte an die klebrig he ißen Stunden unter dem hoch gewölbten grünen Blätterdach. Ich dachte an den Marsch durch das Dunkel des antiken Tempels und daran, wie Merrick mir den sanft ansteigenden Hang hinauf im Sprühnebel und Brüllen des Wasserfalls vorausgeklettert war.
Ich war viel zu alt für unser großes, geheimes Abenteuer gewesen. Ich dachte an kostbare Gegenstände, aus Jade geschnitten, so grün wie Merricks Augen.
Ihre Stimme riss mich aus meiner egoistischen Selbstversunkenheit. »Warum bittest du mich um diesen Zauber?«, fragte sie mich erneut. »Hier sitze ich und betrachte dich, David, und mit jeder verstreichenden Sekunde wird mir deutlicher bewusst, was du bist und was dir widerfahren ist. Ich setze die einzelnen Teile zusammen, die ich in deinem weit geöffneten Geist lese -
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