Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
und er konnte jedem Angst machen, einfach jedem!«
Sie kramte eine Weile lang in der Schachtel, bis sie fand, wonach sie gesucht hatte. Das nächste Bild.
»Und sehen Sie, hier …« Das Foto zeigte einen älteren, grauhaarigen Mann, einen Farbigen, der auf einem vornehmen, hölzernen Stuhl saß. »Das ist der Alte Mann, wie er immer genannt wurde. Einen anderen Namen von ihm kenne ich gar nicht. Er ging zurück nach Haiti, um die Zauberei zu studieren, und sein ganzes Wissen gab er später an Onkel Vervain weiter. Manchmal spüre ich, dass Onkel Vervain zu mir spricht. Manchmal habe ich das Gefühl, er ist draußen vor unserem Haus und wacht über die Große Nananne. Den Alten Mann habe ich auch einmal im Traum gesehen.«
Ich hätte zu gern ein paar Fragen gestellt, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt.
»Und hier, dies ist die Hübsche Justine«, fuhr Merrick fort, wobei sie das wahrscheinlich eindrucksvollste der Bilder auf den Tisch legte - ein Studiofoto auf schwerem Karton in einem braunen Papprahmen. »Alle hatten vor der Hübschen Justine Angst.« Die junge Frau war wirklich hübsch, flachbrüstig, wie es während der zwanziger Jahre modern war, das Haar zu einem Pagenkopf geschnitten, die dunkle Haut ausgesprochen schön. Augen und Mund waren nicht sehr ausdrucksvoll, zeigten jedoch einen Anflug von Schmerz.
Jetzt kamen die modernen Schnappschüsse, aus dünnem, sich aufbiegendem Papier, mit den gewöhnlichen Handkameras der heutigen Zeit gemacht.
»Seine Söhne - das waren die Schlimmsten«, sagte Merrick, auf die Schwarzweißbilder weisend. »Sie waren die Großenkel der Hübschen Justine; alle weiß, und alle lebten in New York. Sie wollten alles, was ihre farbige Abstammung verriet, in die Finger kriegen, um es zu vernichten. Aber die Große Nananne wusste, worauf sie aus waren. Sie fiel auf ihr einnehmendes Wesen nicht herein, und auch nicht darauf, dass sie mich mit in die Stadt nahmen und mir hübsche Kleider kauften. Die Sachen habe ich immer noch. Niedliche Kleider, die nie jemand getragen hat, und hübsche Schuhe mit glatten Sohlen. Sie ließen uns keine Adresse da, als sie schließlich gingen. Hier, schauen Sie, das Foto von ihnen. Sehen Sie nur, wie beunruhigt sie sind! Aber ich war gemein zu ihnen.«
Aaron schüttelte den Kopf, während er die fremden, angespannten Gesichter betrachtete. Da die Bilder mich nervös machten, ließ ich meine Augen auf diesem so fraulich wirkenden Kind ruhen. »Was hast du denn getan, Merrick?«, fragte ich, anstatt klugerweise zu schweigen.
»Ach, ihr wisst schon, ich habe ihnen ihre geheimsten Gedanken aus der Hand gelesen und die schlimmen Sachen ausgesprochen, die sie immer vertuschen wollten. Das war nicht nett von mir, aber ich hab’s trotzdem gemacht, damit sie endlich fortgingen. Ich sagte ihnen, es gebe jede Menge Geister im Haus. Ich habe die Geister geholt. Nein, ich habe sie nicht geholt. Ich habe nach ihnen gerufen, und sie kamen auf meine Bitte. Die Große Nananne fand es lustig. Sie forderten von ihr: ›Sag, sie soll damit aufhören.‹ Aber die Große Nananne antwortete: ›Wieso glaubt ihr, ich könnte sie aufhalten?‹, als wäre ich ein wildes Tier, das sie nicht unter Kontrolle hätte.« Wieder stieß sie diesen kleinen Seufzer aus. »Die Große Nananne liegt im Sterben, wirklich«, fuhr sie fort, indem sie die Augen fest auf mich gerichtet hielt. »Sie sagt, jetzt sei sonst niemand mehr da, deshalb muss ich diese Dinge bewahren - ihre Bücher, die Zeitungsausschnitte. Hier, sehen Sie! Das alte Zeitungspapier ist so brüchig, es fällt schon auseinander.« Sie schaute Aaron an. »Mr. Lightner wird mir helfen, diese Sachen zu bewahren. - Warum haben Sie solche Angst um mich, Mr. Talbot? Sind Sie nicht stark genug? Sie finden es doch nicht schlimm, dass ich farbig bin, oder? Sie selbst sind nicht von hier, Sie kommen von weit her.«
Angst … War das Gefühl wirklich so ausgeprägt? Merrick hatte mit Nachdruck gesprochen, und ich suchte nach der Wahrheit in den Worten, aber ich hatte schnell ein paar verteidigende Worte zur Hand, für mich und vielleicht auch für sie. »Lies nur in meinem Herzen, Kind«, sagte ich. »Ich finde es nicht schlimm, dass du farbig bist, wenn ich auch in einem bestimmten Fall gedacht haben mag, dass es ein unglücklicher Umstand war.« Nachdenklich hob sie die Augenbrauen. Ich fuhr fort, besorgt vielleicht, aber nicht ängstlich. »Ich bin traurig, weil du sagst, du hast niemanden mehr, und ich bin
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