Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
hatte. Er wandte sich um und sah mich an. Sein glattes Gesicht war ohne Wärme, ausdruckslos. Das schwache Licht der fernen Straßenlaternen ließ seine stürmisch blickenden Augen aufleuchten. Er wandte sich ab und betrachtete abermals den Leichnam in dem Sarg dort auf dem Pflaster. Ich glaube, seine Lider bebten. Ich glaube, sein ganzer Körper erzitterte fast unmerklich, als ob die kleinste Bewegung ihn erschöpfe, als ob er sich am liebsten die Oberarme gerieben und einen schnellen Rückzug angetreten hätte. Aber er machte keine Anstalten, uns im Stich zu lassen. »Komm her, David«, sagte er, indem er sich mit demselben heiseren Flüstern gütig an mich wandte. »Komm und lausche. Ich kann ihn nicht hören, ich bin sein Erzeuger. Lausche und sag mir, ob er in seinem Körper ist.« Ich gehorchte. Ich stellte mich neben ihn.
»Er ist steinhart, wie Kohle, Lestat«, antwortete ich schnell. »Ich habe nicht gewagt, ihn anzufassen. Was meinst du, sollen wir es tun?«
Langsam, zögernd, richtete Lestat den Blick auf das schmerzliche Bild.
»Seine Haut fühlt sich fest an«, mischte sich Merrick hastig ein. Sie stand auf und trat von dem Sarg zurück, damit Lestat ihren Platz einnehmen konnte. »Versuch es selbst, Lestat«, sagte sie. »Komm, fass ihn an.« In ihrer Stimme schwang der unterdrückte Schmerz mit.
»Und du?«, fragte Lestat, indem er nach ihr griff und mit der rechten Hand ihre Schulter umklammerte. »Was hörst du, chérie ?« , flüsterte er heiser.
Sie schüttelte den Kopf. »Stille«, sagte sie mit bebenden Lippen. Die blutigen Tränen hatten auf ihren bleichen Wangen sichtbare Streifen hinterlassen. »Dabei hat er mich zum Vampir gemacht. Ich habe ihn verzaubert, ihn verführt. Er hatte keine Chance gegen meine Pläne. Und nun das hier, weil ich mich eingemischt habe! Das hier! Und ich kann die Sterblichen in den umliegenden Häusern hören, aber nichts von ihm.«
»Merrick«, drängte er, »lausche, so, wie du es früher konntest. Wenn du es als Vampir nicht kannst, dann sei die Hexe. Ja, ich weiß, dass er dich gemacht hat. Aber eine Hexe warst du vorher schon.« Er ließ seine Augen vom einen zum anderen gleiten, schwache, neu belebte Emotionen rührten sich in ihm. »Sag mir, ob er wieder zurückkommen will.«
Erneut stiegen ihr Tränen in die Augen. Bekümmert, elend, so blickte sie auf den angeblichen Leichnam nieder. »Er könnte um Leben schreien«, sagte sie, »aber ich vermag es nicht zu hören. Die Hexe in mir hört nur noch Schweigen. Und der Mensch in mir kennt nur Reue. Lestat, gib ihm dein Blut. Hol ihn zurück.«
Lestat sah mich an.
Merrick griff nach seinem Arm und zwang ihn, stattdessen sie wieder anzuschauen.
»Benutze deinen Zauber«, sagte sie leise, aber hitzig und drängend. »Benutze deinen Zauber und glaube daran, so wie ich es bei meinem tat.«
Lestat nickte und legte seine Hand sanft auf die ihre, als wolle er sie beruhigen.
»David, sag etwas«, forderte er mit rauer Stimme. »Was will er wohl, David? Hat er das getan, weil er Merrick umwandelte und dachte, dafür müsse er mit seinem Leben bezahlen?« Wie konnte ich das beantworten? Wie konnte ich jetzt getreu wiedergeben, was mir mein Gefährte im Laufe so vieler Nächte anvertraut hatte?
»Ich höre nichts«, sagte ich. »Aber es ist mir auch zur Gewohnheit geworden, seine Gedanken nicht auszuspionieren, seine Seele nicht zu vergewaltigen. Es ist mir zur Gewohnheit geworden, ihn tun zu lassen, was er will. Nur, dass ich ihm hin und wieder mein starkes Blut angeboten habe. Aber ich habe seine Schwäche nie angefochten. Ich höre nichts. Ich höre nichts, aber was heißt das schon? Ich gehe nachts über die Friedhöfe dieser Stadt und höre nichts. Ich bewege mich unter Sterblichen, und auch da höre ich manchmal nichts. Und wenn ich allein bin, höre ich nichts, als ob ich keine innere Stimme hätte.«
Ich schaute auf das geschwärzte Gesicht nieder. Ich registrierte den perfekten Umriss seines Mundes. Und nun bemerkte ich, dass selbst seine Haare unversehrt waren.
»Ich höre nichts«, wiederholte ich, »und doch sehe ich Geister, oft genug sogar. Immer und immer wieder sind sie zu mir gekommen. Aber lauert noch ein Geist in diesem Gehäuse? Ich weiß es nicht.« Lestat schien zu schwanken, wie von einer körperlichen Schwäche, doch er zwang sich zu einer aufrechten Haltung. Beim Anblick der Staubschicht auf seinen Jackenärmeln fühlte ich Scham, Scham auch wegen seiner verfilzten, schmutzigen, lang
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