Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
Ich hörte ihr Weinen. Langsam wandte ich mich um und sah auf sie nieder, wie sie da neben dem Sarg kniete und mich anflehte, als wäre ich einer ihrer Heiligen. »David, wenn du dir das Handgelenk aufschlitzt, wenn du dein Blut über ihn fließen lässt, was würde dann passieren? Könnte ihn das erwecken?«
»Das ist es ja, mein Liebling, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass er getan hat, was er tun wollte, und er hat mir mitgeteilt, was er von mir erwartet.«
»Aber du kannst ihn doch nicht so einfach aufgeben!«, protestierte sie. »David, bitte …« Hilflos erstarb ihre Stimme. Ein leichter Luftzug erfasste die Bananenstauden. Ich blickte entsetzt zu dem Leichnam. Rings um uns hallten das Wispern und Seufzen des Gartens von den Ziegelmauern wider. Doch der Leichnam blieb heil, unbewegt, sicher verschlossen in seinem verbrannten Heiligtum.
Aber vielleicht kam noch eine stärkere Brise, vielleicht auch der Regen, wie so häufig in diesen warmen Frühlingsnächten, und der würde die Gesichtszüge und die fest geschlossenen Augen fortspülen, die nun noch so deutlich erkennbar waren. Ich fand keine Worte, die Merricks Weinen Einhalt geboten hätten, keine Worte, die ausgedrückt hätten, was ich tief im Innern fühlte. War er dahin, oder verweilte sein Geist noch hier? Und was würde er dann von mir erwarten - nicht das, was er in der Nacht zuvor verlangte, als er in der Sicherheit des frühen Zwielichts seinen tapferen Brief schrieb. Was würde er jetzt erwarten, wenn er wirklich in dieser Gestalt eingeschlossen war, dort in der verbrannten hölzernen Kiste.
Was hatte er gedacht, als die Sonne am Himmel aufstieg, als er die tödliche Schwäche und dann das unvermeidliche Feuer spürte? Die Kraft der großen Alten hatte ihm gefehlt, mit der er aus dem Sarg steigen und sich tief in dem frischen Erdreich hätte eingraben können. Hatte er seine Tat bedauert? Verspürte er unerträgliche Schmerzen? Konnte ich nicht etwas erfahren, indem ich einfach sein stilles, verkohltes Gesicht oder seine Hände betrachtete? Ich trat wieder an den Sarg. Ich sah, dass sein Kopf so ordentlich dort lag, als sei er ganz förmlich eingesargt worden. Ich sah, dass seine Hände lose gefaltet auf seiner Brust lagen, wie sie auch ein Leichenbestatter hingelegt hätte. Er hatte nicht versucht, seine Augen mit den Händen zu schützen. Er hatte keinen Versuch ge macht, dem Tode zu entgehen.
Aber sagte all das wirklich etwas aus? Vielleicht hatte er in den letzten Augenblicken nur nicht mehr die Kraft dazu gehabt. Seine Glieder waren mit dem erwachenden Licht taub geworden, es hatte in seine Augen geschienen und ihn gezwungen, sie zu schließen. Ob ich es wohl wagen würde, das geschwärzte, empfindliche Fleisch zu berühren? Wagte ich nachzuschauen, ob die Augäpfel unter den Lidern noch erhalten waren?
Ich war in diese grässlichen Gedanken versunken und von dem Wunsch beseelt, etwas anderes als Merricks leises Weinen zu hören. Ich ging zu den eisernen Stufen hinüber, die sich in einem Kreis von dem darüber liegenden Balkon herabschwangen, und ließ mich auf der Stufe nieder, die mir am bequemsten war. Ich legte die Hände vor mein Gesicht.
»Die Überreste verstreuen«, hauchte ich. »Wenn doch nur die anderen hier wären!«
Im selben Moment kreischte wie als Antwort auf mein ärmliches Gebet das Tor zur Straße. Ich hörte das leise Quietschen der alten Angeln, als es aufgestoßen wurde, und dann das Klicken, als das Schloss wieder einrastete und Eisen auf Eisen traf. Kein Geruch nach menschlichen Eindringlingen! In Wahrheit kannte ich die Schritte sogar, die sich näherten. So oft hatte ich sie schon gehört, als Sterblicher wie als Unsterblicher. Und doch wagte ich nicht, an eine solche Rettung aus meinem Elend zu glauben, bis die unangekündigte Gestalt im Hof auftauchte - mit staubüberpudertem Jackett und wirrem goldgelbem Haar. Die violetten Augen hefteten sich sofort auf das schreckliche, abstoßende Gesicht von Louis: Lestat war gekommen.
Mit ungeschickten Schritten, als wehre sich sein so lange schon unbenutzter Körper dagegen, näherte er sich Merrick, die ihm ihr tränenfeuchtes Gesicht zuwandte, als ob auch sie als Antwort auf ihre Gebete einen Retter nahen sähe.
Sie sank zurück, und ein langer Seufzer kam ihr über die Lippen. »So weit ist es also gekommen, ja?«, fragte Lestat. Seine Stimme klang rau, wie beim letzten Mal, als er sich, durch Sybelles Musik geweckt, von seinem endlosen Schlaf erhoben
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