Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
richtete seine Augen fest auf Lestat. »Ich bin nun sogar beinahe so stark wie du, mein gesegneter Erzeuger. Im Guten wie im Schlechten fühle ich mich nun wie einer von euch.«
Sein Gesicht schimmerte weiß. Er stieß einen seiner langen Seufzer aus, die schon immer nur zu charakteristisch für ihn gewesen waren, dann fuhr er fort:
»Jetzt kann ich es - Gedanken lesen. Weit entfernt spielt Musik, ich kann sie hören. Die Leute, die die Straßen bevölkern, ich höre sie. Ich fange ihren Geruch auf, und er ist süß und mir willkommen. Ich schaue in die Nacht hinaus und sehe sehr weit.« Staunende Erleichterung erfasste mich. Eifrig versuchte ich, meinen Gefühlen durch Gesten und Mimik Ausdruck zu verleihen. Ich fühlte, dass Merrick meine Gefühle teilte. Ihre Liebe zu Louis war beinahe greifbar. Sie war wesentlich aggressiver und fordernder als ihre Liebe zu mir.
Lestat, wohl ein wenig geschwächt von all dem, was er durchgemacht hatte, und durch sein monatelanges Fasten, nickte nur zu Louis’ Worten.
Er schaute zu Merrick hinüber, als läge noch eine Aufgabe vor ihm, und ich persönlich war begierig, dass diese Aufgabe getan wurde. Es würde mir schwer fallen, zuzusehen wie Lestat Merrick in seine Arme schloss. Vielleicht geschähe es unter vier Augen, so wie zuvor bei Louis. Ich war nur zu bereit, mich wegschicken zu lassen, um mit dem Trost meiner Gedanken versehen durch die Nacht zu wandern.
Aber ich spürte, dass unsere kleine Gesellschaft bei weitem noch nicht bereit war, sich aufzulösen.
Merrick beugte sich in ihrem Sessel vor. Sie zeigte eindeutig, dass sie sich nun an uns alle wenden wollte. »Es gibt etwas, das gesagt werden muss«, begann sie, und dabei ließ sie ihre Augen für eine Weile voller Respekt auf mir ruhen, ehe sie die anderen beiden ansah. »Louis und David, ihr beide fühlt euch sehr schuldig, weil ich nun eine von euch bin. Und vielleicht gehen dir, Lestat, ja auch ein paar Fragen im Kopf herum. Hört mich deshalb an, um eurer selbst willen, und wenn ihr die wesentlichen Teile der Geschichte gehört habt, könnt ihr entscheiden, wie ihr euch gefühlsmäßig dazu stellen wollt. Ich bin hier, weil ich diesen Entschluss schon vor langer Zeit gefasst habe.
Einige Jahre sind vergangen, seit David Talbot, unser verehrter Generaloberst, aus der warmen, schützenden Umarmung der Talamasca verschwand, und die Lügen über das Ende seines sterblichen Lebens konnten mich keineswegs besänftigen. Wie David weiß, erfuhr ich von dem Geheimnis über den Körpertausch, der David aus seinem alternden Körper löste, in dem ich ihn immer zutiefst geliebt hatte. Aber ich hätte den geheimen Be richt meines Freundes Aaron Lightner gar nicht gebraucht, um zu erfahren, was mit Davids Seele geschehen war. Ich erfuhr die Wahrheit, als ich - nachdem dieser alte Körper, den wir als David Talbot bezeichneten, gestorben war - nach London flog und von ihm Abschied nahm. Ehe der Sarg versiegelt wurde, war ich allein mit dem Leichnam. Als ich ihn berührte, wusste ich, dass David nicht in diesem Körper gestorben war, und in diesem einen Moment erwachten meine ehrgeizigen Ideen. Nur wenig später fand ich Aaron Lightners Unterlagen, aus denen klar hervorging, dass David wahrhaftig das glückliche Opfer eines faustischen Tausches geworden war und dass etwas - nach Aarons Vorstellung unverzeihbar - David samt seinem neuen jungen Körper unserer Welt entrissen hatte.
Ich wusste natürlich, dass es die Vampire gewesen waren. Ich brauchte keine Fantasy-Literatur, die die Fakten verschleiert, um mir auszurechnen, wie Lestat endlich seinen Willen bekommen hatte.
Aber zu dem Zeitpunkt, als ich diesen seltsamen Bericht mit all seinen Euphemismen und Namensabkürzungen las, hatte ich schon einen starken, uralten Zauber gewirkt. Ich hatte es getan, um David Talbot, als was immer er mir erschien - junger Mann, Vampir oder sogar Geist -, zu mir zurückzubringen, zurück in meine liebenden Arme, zurück zu seinem früheren Verantwortungsgefühl fü r mich, zurück zu der Liebe, die wir einst füreinander empfanden.«
Sie hielt inne, bückte sich und zog ein kleines, in Stoff gewickeltes Päckchen aus ihrer Tasche. Da war der ätzende Geruch wieder, den ich nicht einordnen konnte. Und dann schlug sie das Tuch zurück und enthüllte etwas, das eine vergilbte, mit einer dünnen Schicht Moder überzogene menschliche Hand zu sein schien. Es war nicht etwa die alte, verschrumpelte Hand, die ich mehr als einmal auf ihrem
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