Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
gehandhabt hatte.
Die Renovierung wurde architektonisch der Epoche getreu von gleich zwei Baugesellschaften mit Erfahrungen auf diesem Gebiet durchgeführt. Merrick wollte das Haus auf keinen Fall aufsuchen. Es ist meines Wissens immer noch ganz legal Merricks Eigentum. Als der Sommer jenes lange zurückliegenden Jahres endete, besaß Merrick eine Unmenge an Garderobe, obwohl sie täglich zu wachsen schien. Sie trug mit Vorliebe teure, gut geschnittene Kleider mit sichtbaren Steppnähten aus Stoffen mit auffälligen Webmustern, wie jenes weiße Pikeekleid, das ic h zu Anfang beschrie ben habe. Als sie schließlich zum Abendessen mit hochhackigen Schuhen an den Füßen aufzutauchen pflegte, war ich persönlich im Stillen beunruhigt.
Ich bin kein Mann, der Frauen jeden Alters liebt, aber der Anblick ihres Fußes mit dem durch die hohen Absätze gewölbten Spann und der Anblick ihrer Beine mit den straff gespannten Waden reichte aus, um in meinem Gehirn absolut unerwünschte erotische Gedanken zu erzeugen.
Und was ihr Parfüm, Chanel No. 22, anging, so hatte sie begonnen, es jeden Tag aufzutragen. Selbst die Leute, die sich normalerweise von Parfümduft belästigt fühlten, mochten ihn und verbanden ihn schließlich mit Merricks anregender Gegenwart, mit ihren ewigen Fragen und stetigen Gesprächen, ihrem Hunger nach allumfassendem Wissen.
Sie hatte ein sagenhaftes Talent, die Grundlagen der Grammatik zu erfassen, was ihr beim Lernen von Französisch in Wort und Schrift ungeheuer hilfreich war. Und danach war es für sie natürlich eine Kleinigkeit, Latein zu lernen. Mathematik jedoch verabscheute sie, sie war ihr sogar verdächtig - diese Wissenschaft war ihr schlichtweg zu hoch -, aber sie war immerhin klug genug, die Grundzüge zu begreifen. Literatur begeisterte sie über alle Maßen. Sie verschlang Dickens und Dostojewski und redete über die Charaktere ihrer Lektüre mit müheloser Vertrautheit und end loser Begeisterung, als wären es Nachbarn von nebenan. Und von den Magazinen bevorzugte Merrick vor allem die Kunst- und Archäologiezeitschriften, die wir abonniert hatten. Sie verschlang immer noch sowohl die gängigen Magazine der Popkultur als auch die Nachrichtenmagazine, die sie immer schon gern gelesen hatte. Merrick behielt während ihrer ganzen Jugend die Überzeugung bei, dass Lesen der Schlüssel zu allen Wissensge bieten war.
Sie behauptete, britisches Englisch einfach deshalb zu verstehen, weil sie täglich die Londoner Times las. Und sie verliebte sich in die Geschichte Mittelamerikas, obwohl sie nie den Koffer mit ihren gehorteten Schätzen zu sehen verlangte. Merricks Handschrift wurde erstaunlich ausgereift, und sie legte sich bald schon eine sehr altmodische Schrift zu. Ihr Ziel war es, ihre Schrift so zu gestalten, wie die Große Nananne es getan hatte. Sie erreichte ihr Ziel und führte bald spielend unzählige Tagebücher.
Sehen Sie, Merrick war kein Genie, aber sie war ein Kind mit beträchtlicher Intelligenz und mit Talent, das nach Jahren der Frustration und Langeweile endlich eine Gelegenheit beim Schopf gepackt hatte. Nichts konnte ihre Wissbegier bremsen. Nie verübelte sie jemandem seine Überlegenheit. Im Gegenteil, sie saugte jeden fremden Einfluss auf wie ein Schwamm.
In Oak Haven war sie das einzige Kind und deshalb jedermanns Entzücken. Die riesige Boa Constrictor wurde das Lieblingshaustier.
Aaron und Mary fuhren regelmäßig mit Merrick nach New Orleans hinein und besuchten das dortige Museum. Auch flogen sie häufig mit ihr nach Houston, damit sie die großartigen Museen und Bildergalerien dieser Südstaatenhauptstadt kennen lernte. Was mich betraf, so musste ich im Laufe dieses schicksalsträchtigen Sommers mehrmals zurück nach London reisen. Mir widerstrebte das sehr. Ich hatte das Mutterhaus in New Orleans lieben gelernt, und jede Entschuldigung war mir recht, um dort zu verweilen. Ich schickte lange Berichte an die Ältesten der Talamasca, in denen ich diese Schwäche eingestand, sie jedoch gleichzeitig erklärte, ja sogar guthieß, weil ich mit diesem fremdartigen Teil Amerikas näher bekannt werden musste, einem Teil, der so ganz und gar unamerikanisch zu sein schien.
Die Ältesten waren nachsichtig. Ich konnte viel Zeit mit Merrick verbringen. In einem ihrer Briefe warnten sie mich jedoch davor, dieses »kleine Mädchen« zu sehr ins Herz zu schließen. Das versetzte mir einen Stich, denn ich interpretierte es falsch. Ich beteuerte die Reinheit meiner Absichten.
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