Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
langen, stumpfen Brüten aufgerafft, sich in ihre Studien versenkt und begeistert der Schulung in gutem Benehmen gewidmet. Deshalb war es kein Vergnü gen für mich, ihr nun diese Fotos und die Briefe zur Aufbewahrung geben zu müssen. Sie zeigte jedoch keine Gefühlsregung angesichts der Schnappschüsse von Mutter und Schwester. Sie wahrte ihr übliches Schweigen, was Honey in the Sunshine anging, die auf den Fotos etwa sechzehn zu sein schien, und legte alles erst einmal zur Seite.
Ich allerdings betrachtete die Bilder eine Weile lang. Cold Sandra war groß, mit bräunlichem Teint und pechschwarzem Haar, jedoch mit hellen Augen. Und Honey in the Sunshine nun, sie entsprach allen Erwartungen, die der Name hervorrief. Auf den Fotos hatte ihre Haut wirklich einen goldenen Honigton, ihr Augen waren gelblich wie die ihrer Mutter, und ihr hellblondes Haar krauste sich wild und fiel wie Schaum auf ihre Schultern nieder. Ihre Gesichtszüge waren eindeutig von angelsächsischem Schnitt, ebenso wie die ihrer Mutter.
Merrick allerdings sah auf den Fotos fast genauso aus wie Jahre später, als sie auf unserer Schwelle stand. Schon mit ihren zehn Jahren sah man die knospende Weiblichkeit. Außerdem schien sie irgendwie ein ruhigeres Wesen zu haben als die beiden anderen, die auf vielen Bildern an Matthew hingen und ihn angesichts der eifrigen Kameralinse lächelnd umarmten. Merrick war häufig mit ernster Miene festgehalten worden und oft auch allein. Natürlich zeigten die Bilder Ansichten des Regenwaldes, in den sie vorgedrungen waren, und selbst von den bizarren Höhlenmalereien gab es ein paar Fotos von schlechter Qualität. Die Malereien schienen mir jedoch weder von den Olmeken noch von den Maja zu stammen - auch wenn ich mit meiner Meinung falsch liegen konnte. Matthew vermied es jedoch, die genaue Lage zu bezeichnen, sondern benutzte Begriffe wie »Dorf Eins« und »Dorf Zwei«.
In Anbetracht der fehlenden Angaben und der schlechten Fotos war gut zu verstehen, warum sich kein Archäologe für Matthews Entdeckungen interessiert hatte. Mit Merricks Zustimmung vergrößerten wir insgeheim jedes nützliche Foto, aber wegen der schlechten Qualität der Originale kam nichts dabei heraus. Und es fehlten die präzisen Informationen, die es uns erlaubt hätten, die Reise zu wiederholen. Aber einer Sache war ich mir ganz sicher. Das Flugziel mochte Mexiko gewesen sein, aber die Höhle befand sich auf keinen Fall in Mexiko.
Es gab eine Karte, ja, eine unsichere Hand hatte sie mit schwarzer Tusche auf ganz normales Pergamentpapier gezeichnet, aber sie enthielt keine Ortsnamen. Es war nur eine Skizze, auf der die Lage der »Stadt« angezeichnet war und die schon erwähnten Dörfer »Eins« und »Zwei«. Wir ließen sie kopieren, damit die ursprüngliche Karte, deren Papier stark beschädigt und an den Rändern eingerissen war, erhalten blieb. Doch auch diese Karte konnte man kaum als bedeutsame Spur bezeichnen. Es war erschütternd, die begeisterten Briefe zu lesen, die Matthew nach Hause geschrieben hatte. Ich werde niemals den ersten Brief vergessen, den er nach ihren Entdeckungen an seine Mutter schrieb. Die Frau war sehr krank und hatte gerade erst erfahren, dass es keine Hoffnung mehr für sie gab. Die Nachricht erreichte Matthew irgendwo unterwegs, und er bat seine Mutter, bis zu seiner Heimkehr durchzuhalten. Tatsächlich hatte er die Reise sogar aus diesem Grund abgekürzt. Er nahm nur wenige kostbare Objekte mit, vieles ließ er zurück. »Wenn du nur hier gewesen wärest«, schrieb er sinngemäß.
»Kannst du dir deinen schlaksigen, unbeholfenen Sohn vorstellen, wie er in die tiefe Finsternis einer Tempelruine eintaucht und seltsame Wandmalereien findet, die sich jeder Klassifizierung entziehen? Nicht von den Maja und ganz gewiss nicht olmekisch. Aber von wem dann und für wen? Und plötzlich fliegt mir die Taschenlampe aus der Hand, als hätte sie mir jemand weggerissen. Und die Dunkelheit verhüllt die großartigsten, außergewöhnlichsten Bilder, die ich je sah.
Kaum hatten wir den Tempel hinter uns gelassen, mussten wir die Felsen neben einem Wasserfall erklimmen, und Cold Sandra und Honey in the Sunshine immer vornweg. Hinter diesem Wasserfall fanden wir die Höhle, obwohl ich eher vermute, dass es ein gegrabener Tunnel ist. Da gibt es kaum einen Zweifel, denn die riesigen Felsbrocken aus vulkanischem Gestein waren um die Öffnung herum behauen worden, so dass sie ein riesiges Gesicht darstellten, mit dem
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