Chronik der Vampire 08 - Blut und Gold
die die Böse Königin nicht vernichtet hatte.
Während Thorne reglos im Eis lag, vernahm er verschwommen die seltsamen Gespräche derer, die da um eine Tafel versammelt saßen wie eine Schar mächtiger Ritter, nur dass an diesem Ratstisch die Frauen den Männern ebenbürtig waren. Sie versuchten, die Königin durch Vernunft zu überzeugen, mühten sich, sie zu überreden, dass sie ihre Gewaltherrschaft aufgäbe und von ihren üblen Plänen abließe.
Er lauschte, aber er verstand nicht alles, was dort gesagt wurde. Er wusste nur, dass es galt, die Königin aufzuhalten. Die Königin liebte den Bluttrinker Lestat. Doch selbst er konnte sie nicht von ihrem unheilträchtigen Unterfangen abbringen, so rücksichtslos war ihre Vision, so verderbt ihr Geist. Trug diese Königin wahrhaftig den heiligen Urkern aller Bluttrinker in sich? Und wenn, konnte man sie dann überhaupt vernichten? Thorne wünschte, dass die Gabe des Geistes bei ihm stärker ausgeprägt wäre oder dass er sie häufiger angewandt hätte. Seine Kräfte waren zwar während der langen, im Schlaf verbrachten Jahrhunderte gewachsen, doch machte ihm die große Entfernung zu schaffen wie auch seine momentane Schwäche. Doch wie er nun diese Szene betrachtete, mit weit geöffneten Augen, als könne er so besser sehen, schob sich noch eine Rothaarige in sein Blickfeld; sie war die Zwillingsschwester derer, die ihn vor so vielen Jahren geliebt hatte. Und Thorne machte sich klar, dass sie, seine Schöpferin, ihre Schwester schon vor vielen tausend Jahren verloren hatte.
Die Böse Königin hatte dieses Unheil bewirkt. Sie verachtete das Zwillingspaar mit den roten Haaren. Sie hatte sie auseinander gerissen. Und die verschollene Zwillingsschwester war nun gekommen, einen uralten Fluch zu erfüllen, den sie einst über die Böse Königin verhängt hatte. Und während sie näher und näher kam, war sie allein von einem Wunsch besessen: Die Königin zu vernichten. Sie setzte sich nicht zu den anderen an den Ratstisch. Für sie gab es weder Vernunft noch Mäßigung.
»Wir werden alle sterben«, flüsterte Thorne schlaftrunken in der Landschaft aus Schnee und Eis, während ihn die endlose arktische Nacht mit ihrer Kälte einhüllte. Er machte keine Anstalten, sich seinen unsterblichen Gefährten zu nähern. Aber er beobachtete. Er lauschte. Das würde er bis zum letzten Moment tun. Das war das Mindeste, was er tun konnte.
Endlich erreichte die verschollene Zwillingsschwester ihr Ziel. Sie erhob sich gegen die Königin. Die anderen anwesenden Bluttrinker sahen voller Entsetzen zu. Die beiden Frauen kämpften, und während sie aufeinander losgingen wie zwei Krieger auf dem Schlachtfeld, entstand in Thornes Geist plötzlich ein seltsames, alles andere überdeckendes Bild. Es war, als läge er im Schnee und schaute hoch zum Firmament. Und was er sah, war ein riesiges, verschlungenes Netz, das sich in alle Himmelsrichtungen erstreckte, und darin eingebettet blinkten viele Lichtpunkte. Im Zentrum dieses Netzes lohte eine einzelne kraftvolle Flamme. Er wusste, dies war die Königin; und er wusste, dass all die anderen Lichter Bluttrinker waren. Er selbst war einer dieser winzigen grellen Punkte. Die Sage von dem heiligen Urkern war also wahr. Er konnte es mit seinen eigenen Augen sehen. Und nun kam für alle der Augenblick, sich der Finsternis und dem Schweigen zu ergeben. Nun kam das Ende.
Das weit ausgespannte Netz flackerte hell auf; der Kern schien zu explodieren; und dann, einen sich dehnenden Augenblick lang, verdunkelte sich alles, und er spürte ein köstliches Prickeln in seinen Gliedern, wie es ihn oft im Schlaf überkam; er dachte bei sich: So sterben wir jetzt. Ganz ohne Schmerz. Und doch war es wie der Tag Ragnarod für seine alten Götter, die Weltendämmerung, wenn der Gott Heimdali, der Weltenerleuchter, sein Horn blies, um die Götter Aesirs zu ihrer letzten Schlacht zu rufen.
»Und ein Krieg ist auch unser Ende«, flüsterte Thorne. Nicht mehr zu leben schien ihm die beste Lösung zu sein, bis er an sie dachte, seine rothaarige Schöpferin, die ihn zum Bluttrinker gemacht hatte. Er hatte sich so lange schon gewünscht, sie wiederzusehen.
Warum hatte sie ihm nie von ihrer verschollenen Zwillingsschwester erzählt? Warum hatte sie ihm nie die Mythen anvertraut, von denen der Bluttrinker Lestat sang? Gewiss hatte sie das Geheimnis der Bösen Königin, die den heiligen Urkern in sich trug, gekannt. Er änderte seine Lage, regte sich im Schlaf. Das weit sich
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