Chronik der Vampire 08 - Blut und Gold
Fluss der vergehenden Zeit konnte er doch nicht das Bild der einen, lang Verlorenen aus seinem Gedächtnis streichen; er konnte nicht vergessen, dass sie so lebendig und schön war wie je, und vergessen geglaubte Gedanken erwachten mit bitterer Schärfe in seinem Kopf. Warum hatten sie gestritten? Hatte sie ihn denn wirklich einmal im Stich gelassen? Warum hatte er ihre anderen Gefährten so sehr gehasst? Warum missgönnte er ihr, dass umherschweifende Bluttrinker, die auf sie und ihre Gefährten trafen, ihr sofort Verehrung entgegenbrachten, wenn sie sich über ihre Reisen unterhielten?
All die Mythen über die Königin und den heiligen Urkern – hätten sie ihm etwas bedeutet? Er wusste es nicht. Er hungerte nicht nach Mythen. Sie verwirrten ihn nur. Aber er konnte das Bild des in jene mysteriösen Ketten geschlagenen Lestat nicht aus seinem Geist verbannen.
Die Erinnerungen ließen ihm keine Ruhe.
Mitten im Winter, als endloses Dunkel über dem Eis herrschte, wurde ihm endgültig klar, dass der Schlaf ihn geflohen hatte. Er würde keinen Frieden mehr finden.
Und so erhob er sich aus seiner Höhle und begann seine lange Wanderung durch den Schnee gen Süden. Er nahm sich Zeit, lauschte auf die elektrischen Stimmen der Welt dort unten und war im Ungewissen, wo er wieder in sie eintreten würde. Der Wind riss an seinem langen roten Haar; er stellte seinen pelzbesetzten Kragen auf und wischte sich das Eis von den Augenbrauen. Bald schon waren seine Stiefel nass, und so breitete er die Arme aus, befahl wortlos die Gabe der Lüfte herbei und hob sich empor, sodass er in geringer Höhe über das Land reisen konnte, während er nach anderen seiner Art Ausschau hielt und hoffte, dass er jemanden fände, alt wie er selbst, dem er willkommen wäre.
Der zufälligen Botschaften, die die Gabe des Geistes ihm vermittelten, überdrüssig, wollte er gesprochene Worte hören.
2
E inige sonnenlose Tage und Nächte eilte er durch tiefen Winter. Doch schon nach kurzer Zeit vernahm er den Ruf eines anderen Bluttrinkers, älter als er selbst und aus einer Stadt, in der Thorne vor Jahrhunderten einmal gewesen war. Selbst in seinem die Nächte überdauernden Schlaf hatte er diese Stadt nicht vergessen. Damals war sie ein großer Marktflecken mit einer schönen Kathedrale gewesen. Jedoch hatte er sie zu jener Zeit auf seiner langen Reise in den Norden von der gefürchteten Pest heimgesucht vorgefunden, und er hatte nicht geglaubt, dass sie sich davon erholen würde. Thorne war es sogar so vorgekommen, als ob alle Völker der Erde an dieser schrecklichen Seuche sterben würden, so grausam und gnadenlos hatte sie gewütet. Wieder bohrten qualvolle Erinnerungen in ihm. Er sah und roch diese Pestilenz, in deren Verlauf Kinder ohne ihre Eltern ziellos umherirrten und überall Berge von Leichen lagen. Nirgends konnte man dem Gestank von faulendem Fleisch entgehen. Wie hätte er jemandem erklären können, wie viel Kummer ihm dieses Unheil bereitet hatte?
Er mochte diese Städte und Dörfer nicht sterben sehen, auch wenn er nicht zu ihnen gehörte. Er steckte sich nicht an, wenn er von den Kranken trank; aber heilen konnte er auch niemanden. So hatte er seinen Weg in den Norden fortgesetzt, musste aber unentwegt daran denken, dass vielleicht bald Schnee oder Gestrüpp all die herrlichen Dinge überdecken würden, die von den Menschen erschaffen worden waren, oder die weiche Erdkrume sie schließlich verschlänge.
Aber seine schlimmen Befürchtungen waren nicht eingetreten; nicht alle waren gestorben, sogar Menschen aus jener Stadt hatten es überstanden, und ihre Nachfahren lebten immer noch in den engen, gepflasterten mittelalterlichen Gassen, durch die er nun schritt, und angesichts der herrschenden Reinlichkeit fühlte er sich besänftigt – mehr, als er es je für möglich gehalten hätte. Ja, es tat ihm gut, hier in diesem wohl geordneten Gemeinwesen zu sein. Wie fest gebaut und schön die alten Fachwerkhäuser waren, wenn auch in ihrem Innern moderne Geräte tickten und summten. Nun sah er die Wunder mit eigenen Augen, die er zuvor nur durch die Gabe des Geistes wahrgenommen hatte. Bunte Träume flimmerten über die Fernsehschirme. Und die Menschen waren vor Schnee und Eis so sicher geborgen, wie sie es sich zu seiner Zeit nie hätten vorstellen können.
Er wollte mehr über diese Wunder wissen, was ihn selbst erstaunte. Er wollte Eisenbahnen und Schiffe sehen, Flugzeuge und Automobile, Computer und schnurlose
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