Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)
seine Geschichte abgeschrieben. Von Irem (eigentlich südarabisch Iram), der Stadt der Säulen, redet schon der Koran (Sura 89, 6); bei den arabischen Historikern (Masudi, IV, 88ff. ed. C. Barbier de Meynard etc.) wird ihr Geschick dann ausführlich erzählt: Ihr König wollte eine Stadt bauen, die schöner als das Paradies sei; eben Irem. Dieses – Inbegriff menschlicher Hybris – aber wird von einem Sandsturm völlig vernichtet. Die »namenlose Stadt« selbst ist nun aber nicht dieses Irem der arabischen Sage, sondern ein prähistorischer, auch von der Sage vergessener Ort, wo vielleicht schon (wie die Geschichte erzählt) die Bewohner Irems namenlosem Grauen gegenüberstanden. Lovecraft bemüht sich also, die Örtlichkeiten der Sage und des Mythos an Fremdartigkeit und Alter noch einmal zu transzendieren (man beachte auch die evokative Funktion der Namenlosigkeit).
Zwar ist die Idee, in einer Ruinenstadt in der Wüste hätten archaische Monstren überlebt, in den Pulp-Magazinen sehr verbreitet – so greifen Edmond Hamilton, in ›The Monster-God of Mamurth‹ ( Weird Tales, August 1926), oder Clark Ashton Smith, ›The Vaults of Yoh-Vombis‹ ( Weird Tales, Mai 1932) diese Idee wenig später auf –, aber Lovecraft schafft daraus etwas sehr Eigenes, nicht zuletzt durch eine unerreichte sprachliche Verdichtung und Sublimierung, die das Interesse des Lesers ganz auf die Atmosphäre und die Fremdartigkeit der reptilischen Überlebenden unter dem Boden der Wüstenstadt lenkt (was dabei aus dem menschlichen Beobachter wird, ist geradezu gleichgültig).
›The Nameless City‹ enthält eine ganze Reihe von literarischen Anspielungen, die hier nicht vollständig erklärt werden können. Die ›Image du Monde‹ ist ein realer altfranzösischer Text des 13. Jahrhunderts. Das Gleiche gilt für den spätantiken oder frühbyzantinischen Damascius (der aber mit dem großen Neuplatoniker gleichen Namens wohl nicht identisch ist: deshalb bei Lovecraft »apokryph«), welcher dem Vernehmen nach Bücher »Über Wunderbare Geschichten«, »Über Dämonen«, »Über Totenerscheinungen« und »Über rätselhafte Erscheinungen« schrieb (nichts davon ist erhalten). Hauptquelle für diesen Mirabilienautor (sc. Sammler kurioser und rätselhafter Geschichten) ist die sogenannte Bibliothek des Patriarchen Photios, Codex 130 (von Lovecraft in seinem ›Commonplace Book‹, Nr. 121 zitiert).
Die Worte Lord Dunsanys entstammen dem Schlusssatz einer Erzählung dieses großen irischen Fantastikautors ›The Probable Adventure of the Three Literary Men‹ (in: The Book of Wonder, 1912). Die Lektüre dieser Geschichte soll den Traum Lovecrafts ausgelöst haben, dem sich ›The Nameless City‹ verdankt, wie der Autor mehrfach Freunden geschrieben hat.
Die rätselhaften Sätze über Afrasiab (König von Turan), der mit dämonischen Begleitern den Oxus (den heutigen Amu-Darja) hinabtreibt, stammen aus Edgar Allan Poes Kurzgeschichte ›The Premature Burial‹ sowie letztlich aus Firdausis Shahname (dem persischen Nationalepos). Und so weiter ...
Das Verifizieren von Lovecrafts Anspielungen hat sich zu einer eigenen kleinen Wissenschaft entwickelt, die sich in einer reichen Sekundärliteratur niedergeschlagen hat. Eine ganz eigene Karriere sollte der Zweizeiler »That is not dead which can eternal lie / And with strange aeons even death may die« des »verrückten Arabers Abdul Alhazred« machen. Diesen Namen hatte ein Freund der Familie Lovecraft gegeben, als dieser in kindlichem Alter die Märchen aus Tausendundeiner Nacht nachspielte; man sieht den Zug augenzwinkernder Autobiografie. Korrektes Arabisch ist das übrigens nicht; der Name müsste Abd al-Hazred oder Abdul Hazred heißen. Doch Lovecraft hatte nur oberflächliche Kenntnisse der Sprache. Von dem legendären Buch, welchem diese Zeilen entstammen (dem Necronomicon ), ist dann zuerst in ›The Hound‹ die Rede.
›The Nameless City‹ bleibt interessant als Keimzelle späterer und größerer literarischer Schöpfungen Lovecrafts, wobei vor allem an den Roman ›At the Mountains of Madness‹ zu denken ist. Für Lovecrafts hier erst im Entstehen begriffene Mythologie bleibt wichtig, dass diese nicht nur Wesen, sondern auch Orte umfasst, mythische Räume, die keineswegs alle in der Ferne liegen, sondern im Gegenteil meistens vor der Haustür des Autors. Aber diesen mythischen Orten werden wir in diesem Band noch ausführlich begegnen.
Stadt ohne Namen
Als ich mich der Stadt ohne
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