Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)
kein Wind blies. Dies verblüffte mich und weckte neue Furcht in mir, doch sogleich entsann ich mich der plötzlich aufspringenden Winde an diesem Ort, die ich bereits bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang gesehen und gehört hatte, und tat es als natürliche Erscheinung ab. Ich kam zu dem Schluss, dass der Wind aus dem Spalt irgendeiner Felshöhle dringen müsse, und beobachtete den tanzenden Sand, um ihn zu seinem Ursprung zurückzuverfolgen; kurz darauf erkannte ich, dass er der schwarzen Öffnung eines Tempels weitab südlich von mir entwich, die aus meiner Entfernung schon fast nicht mehr zu sehen war.
Ich stemmte mich gegen die erstickende Sandwolke und stapfte auf diesen Tempel zu, der beim Näherkommen größer aufragte als die anderen und einen Eingang aufwies, der weit weniger mit verbackenem Sand gefüllt war. Ich wäre hineingestiegen, hätte nicht die fürchterliche Macht des eisigen Windes beinahe meine Fackel zum Erlöschen gebracht. Er brauste dämonisch aus der dunklen Pforte heraus und seufzte schaurig, als er den Sand verwehte und zwischen den unheimlichen Ruinen verteilte. Bald wurde er schwächer und der Sand kam mehr und mehr zur Ruhe, bis er sich schließlich wieder gelegt hatte; doch etwas Beseeltes schien zwischen den geisterhaften Steinen der Stadt umzugehen, und als ich den Mond ansah, schien er zu zittern, als spiegelte er sich in bewegten Wassern. Ich empfand mehr Furcht als ich in Worte fassen kann, doch nicht genug, dass es mein Verlangen gedämpft hätte, in den Genuss des Entdeckens zu kommen; und kaum war der Wind restlos erstorben, überschritt ich die Schwelle zu jener dunklen Kammer, aus der er gedrungen war.
Wie ich schon von außen vermutet hatte, war dieser Tempel größer als die beiden, die ich bereits besucht hatte; und er war vermutlich eine von der Natur geschaffene Höhle, da er Winde aus unterweltlichen Gefilden gebar. Hier in seinem Innern konnte ich bequem aufrecht stehen, doch wie ich erkannte, waren die Steine und Altäre ebenso niedrig wie die in den anderen Tempeln. An den Wänden und der Decke gewahrte ich erstmals einige Spuren der Malkunst der alten Rasse, eigentümlich gekrümmte Farbstriche, die nahezu verblichen oder abgeblättert waren; und an zweien der Altäre erblickte ich mit wachsender Erregung eine Reihe kunstvoll ausgeführter, krummliniger Steinmeißelungen. Als ich meine Fackel hob, kam es mir vor, als sei die Form der Höhlendecke zu ebenmäßig, um natürlichen Ursprungs zu sein, und ich fragte mich, was die prähistorischen Steinmetze wohl zuerst bearbeitet hatten. Ihre technischen Fähigkeiten mussten immens gewesen sein.
Dann enthüllte mir ein helles Aufflackern der unwirklichen Flamme das, wonach ich gesucht hatte: eine Öffnung zu jenen entlegenen Abgründen, aus denen der plötzliche Wind hervorgebraust war. Mir wurde schwach, als ich erkannte, dass es sich um eine kleine und fraglos künstlich angelegte Pforte handelte, die in den natürlichen Fels gehauen war.
Ich schob meine Fackel hindurch und erblickte einen schwarzen Tunnel, dessen Decke sich niedrig über einer unebenen Flucht winziger, zahlreicher und abschüssiger Stufen wölbte. Ich werde diese Stufen auf ewig in meinen Träumen sehen, denn ich erfuhr bald, was sie bedeuteten. In jenem Augenblick wusste ich kaum, ob ich sie als Stufen oder als bloße Felssprossen bezeichnen sollte, die da steil hinabführten. Mein Hirn schwirrte vor wahnwitzigen Gedanken, und die Worte und Warnungen arabischer Seher schienen über die Wüste hinweg aus den Ländern, die der Mensch kennt, bis hin zur Stadt ohne Namen, die kein Mensch zu kennen wagt, zu dringen. Dennoch zögerte ich nur einen Moment lang, bevor ich durch das Portal vordrang und vorsichtig den steilen Schacht hinabzuklettern begann, rücklings und mit den Füßen voran, wie auf einer Leiter.
Allenfalls in den furchtbaren Trugbildern des Drogenrauschs oder Fieberwahns vermag irgendein Mensch, einen solchen Abstieg zu erleben wie ich. Der enge Schacht führte endlos hinab wie ein beängstigender, verhexter Brunnen, und die Fackel, die ich über den Kopf hielt, erhellte kaum die unbekannten Tiefen, denen ich entgegenkroch. Ich verlor jedes Zeitgefühl und vergaß, auf meine Uhr zu sehen, obwohl ich Angst verspürte, wenn ich an die Strecke dachte, die ich vermutlich zurücklegte. Richtung und Gefälle meines Abstiegs variierten; und einmal gelangte ich an einen langen, niedrigen, waagerechten Stollen, über dessen felsigen
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