Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)
konnte ein Durchbruch nur von Charles und seinen Gefährten bewerkstelligt worden sein, die nach den uralten Gewölben gesucht hatten, von denen sie keinesfalls auf bekömmlichen Wegen Kenntnis erlangt haben konnten.
Der Arzt versuchte, sich in Charles hineinzuversetzen, und überlegte, wie er seine Suche begonnen haben mochte, doch er kam mit dieser Methode auch nicht recht weiter. Dann entschied er sich für die Ausschlussmethode und überprüfte die unterirdischen Oberflächen, die vertikalen wie die horizontalen, und nahm jeden Zentimeter genau in Augenschein. Bald waren die infrage kommenden Stellen erheblich eingeschränkt, und letzten Endes blieb nichts als eine schmale Plattform vor den Waschbottichen, die er bereits zuvor umsonst untersucht hatte. Nun experimentierte er auf jede erdenkliche Weise und fand schließlich heraus, dass das obere Ende sich tatsächlich über ein Scharnier in der Ecke drehen und waagerecht wegschieben ließ. Darunter lag eine saubere Oberfläche aus Beton mit einem eisernen Einstiegsdeckel, auf den sich Mr. Ward sofort mit Feuereifer stürzte. Der Deckel war nicht schwer zu entfernen, und als der Vater ihn noch nicht ganz zur Seite geschoben hatte, bemerkte Willett, wie sonderbar Mr. Ward auf einmal aussah. Er schwankte und nickte benommen, und in dem Hauch widerlicher Luft, die aus der schwarzen Grube heraufquoll, erkannte der Doktor sofort die Ursache dafür.
Dr. Willett trug seinen ohnmächtigen Begleiter umgehend nach oben und belebte ihn mit kaltem Wasser. Mr. Ward reagierte schwach, es war deutlich zu sehen, dass der Pesthauch aus dem unterirdischen Gewölbe ihn sehr übel erwischt hatte. Willett wollte keinerlei Risiken eingehen, eilte auf die Broad Street, um ein Taxi zu rufen, und sandte den Leidenden trotz der mit schwacher Stimme vorgebrachten Proteste nach Hause. Anschließend nahm er eine Taschenlampe, band sich ein Tuch über die Nase und stieg wieder hinab, um in die neu entdeckten Tiefen zu schauen. Die faulige Luft war nun einigermaßen abgezogen und Willett konnte einen Lichtstrahl in das stygische Loch richten. Die ersten drei Meter sah er einen steilen zylinderförmigen Schacht mit Betonwänden und eine Leiter aus Metall, darunter schien das Loch in alte Steinstufen überzugehen, die ursprünglich ein wenig südlich des derzeitigen Gebäudes an die Erdoberfläche gekommen sein mussten.
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Willett gibt freimütig zu, dass die Erinnerung an die alten Gerüchte um Curwen ihn einen Moment davon abhielt, allein hinab in diesen stinkenden Abgrund zu steigen. Er musste an das denken, was Luke Fenner über die letzte, ungeheuerliche Nacht berichtet hatte. Dann siegte das Pflichtgefühl, und er wagte sich an den Abstieg mit einer großen Aktentasche in der Hand, falls er eventuell bedeutsame Dokumente fand und mitnehmen konnte. Langsam, wie es seinem Alter zukam, stieg er die Leiter hinab und erreichte die schleimigen Stufen darunter. Seine Taschenlampe verriet ihm, dass es sich um altes Mauerwerk handelte, und auf den triefnassen Wänden sah er den ungesunden Moosbewuchs der Jahrhunderte. Immer tiefer hinab führten die Stufen, nicht in Form einer Wendeltreppe, sondern über drei abrupte Krümmungen. Sie waren so schmal, dass zwei Männer nur mit Schwierigkeiten hindurchgepasst hätten. Er hatte ungefähr dreißig Stufen gezählt, als ein schwaches Geräusch an seine Ohren drang, und danach vermochte er sich nicht mehr darauf konzentrieren, sie weiter zu zählen.
Es war ein gottloses Geräusch – einer jener leisen, heimtückischen Frevel an der Natur, die es eigentlich gar nicht geben darf. Es als schwachsinniges Wehklagen, unheilvolles Winseln oder verzweifeltes, vielstimmiges Heulen von geschundenem Fleisch ohne Verstand zu bezeichnen, würde seiner Widerwärtigkeit und seinen seelenbetäubenden Zwischentönen nicht gerecht werden. Hatte Ward an dem Tag, als sie ihn fortgebracht hatten, nach diesen Lauten gelauscht? Es war das Schockierendste, was Willett jemals gehört hatte. Es drang aus einer nicht zu bestimmenden Richtung, als der Arzt das Ende der Treppe erreichte und das Licht der Taschenlampe auf hohe Korridorwände richtete, die zyklopisch überwölbt und von zahllosen schwarzen Bogengängen durchbrochen waren. Der Gang, in dem er stand, war bis zum Scheitelpunkt der Gewölbedecke etwas mehr als vier Meter hoch und rund dreieinhalb Meter breit. Der Boden war mit großen, regelmäßigen Steinplatten gepflastert und die Wände und die Decke bestanden aus
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