Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)
Ward‹ nun in zweifacher Hinsicht. Einmal wird dem Leser suggeriert, was Curwen tut, z. B. wie er schließlich Charles Dexter Ward tötet, aber diese erste Ebene des Schreckens ist gar nicht die entscheidende, weil der Leser sie sofort versteht. Dahinter tut sich nun aber eine zweite Ebene des Schreckens auf. Das Vorfindliche – die drei Nekromanten, welche die Leichen berühmter Verstorbener stehlen, um ihnen ihr Wissen abzupressen – ist eben nur eine erste Ebene. Wozu brauchen Orne, Hutchinson und Curwen das Wissen, welches nur die Verstorbenen liefern können? »In einem Jahreslauf wird es reif seyn, die Legionen der Unterwelt zu rufen, und hernach wird dem, was unser seyn soll, keyne Grenzen gesetzt seyn«, schreibt Edward Hutchinson an Joseph Curwen. Nicht was die drei Magier tun, ist der Höhepunkt der Schrecken, sondern was sie planen.
Manches wird erst beim zweiten oder dritten Lesen deutlich: Wer ist jener bedeutende »B. F. aus Philadelphia«, dessen Überreste Simon Orne von Curwen haben will? Doch offenbar kein anderer als Benjamin Franklin. Das sind Anspielungen, die der gebildete Leser noch relativ rasch versteht. Anderes hat eher Insider-Charakter. Geradezu eine theoretische Reflexion über das Wesen unheimlicher Suggestion sind die Gedanken, die Dr. Willett durch den Kopf schießen, als er im Keller von Wards Bungalow die »unfertigen« Ergebnisse von Curwens Experimenten entdeckt. Ich muss den Passus hier nicht zitieren; er beschreibt präzise, was Lovecraft selbst mit seiner unheimlichen Schriftstellerei erreichen wollte.
Obwohl ›The Case of Charles Dexter Ward‹ auf den ersten Blick eine leicht verständliche Geschichte erzählt, erschließt sich das wahre Beziehungsgeflecht um diesen Text erst, wenn man sich auf die historischen Hintergründe, d. h. auf die Geschichte von Lovecrafts geliebter Heimatstadt Providence, Rhode Island einlässt. Es ist unumgänglich, sich dazu einige elementare Fakten über diese Stadt zu vergegenwärtigen.
Providence wurde 1636 (also im gleichen Jahr wie in Boston die Harvard University) von dem Theologen Roger Williams (1604?–1683) gegründet. Wegen seiner radikalen und ungewöhnlichen Ansichten zur Willens- und Gewissensfreiheit hatte er sich mit der Führungselite des puritanischen Massachusetts überworfen und war 1635 verbannt worden. Dabei hatte man an eine Rückkehr nach England gedacht, aus dem er nach seinem Studium in Cambridge 1631 nach Neuengland ausgewandert war, um Pfarrstellen in Boston und später an anderen Orten anzunehmen. Williams zog es aber vor, sich mit einigen Getreuen in den noch wenig zivilisierten Süden von Boston zu begeben, wo er erst am Seekonk River, später am Mooshassuc River siedelte. Dies wurde das Kerngebiet des späteren Providence. 1639 gründet er die First Baptist Church, von der er sich aber bald wieder trennte. Einen wesentlichen politischen Erfolg konnte er bei einer Reise nach England verbuchen, als er ein königliches Patent erhielt, welches den Siedlungen an der Narragansett Bay die Selbstverwaltung gestattete. Providence (übersetzt »Vorsehung«, nämlich Gottes) nannte er die neue Stadt, die zu Beginn nur wenige Dutzend Siedler mit ihm aufbauten. Anders als das exklusive Massachusetts war Providence von Anfang an für Andersdenkende offen, vor allem Quäker und auch bald schon Juden. Ausgenommen von dieser Freiheit waren selbstverständlich, wie überall auf puritanischem Gebiet, die verhassten Katholiken. Das nonkonformistische Leben des Roger Williams ist sozusagen »typisch« für den kleinen Staat Rhode Island geworden, »where people think different«, wie man bis heute in den USA sagt. Beherrschend waren die Baptisten, daneben die Quäker, aber auch die Episcopalians (also die anglikanischen Nicht-Dissenter) waren einflussreich. 1644 bzw. 1663 entstand die Charter von Rhode Island, welche die erste war, die die Religionsfreiheit in die Verfassung eines Staates aufnahm – ein Ruhm, auf den die Bürger von Rhode Island bis heute mit Recht stolz sind.
Providence wuchs nur sehr langsam: 1708 hatte die Stadt 1446, 1728 dann etwa 4000 Einwohner. Ganz Rhode Island hatte 1731 insgesamt 17 935 Einwohner (ohne die nicht sehr zahlreichen Sklaven); bei Curwens Tod 1771 waren es um die 60 000. Providence selbst hat bei einer Volkszählung 1775 genau 4231 Einwohner, darunter 68 Indianer und 303 Schwarze. Es handelt sich also um eine durchaus überschaubare Kleinstadt. Zahlreiche Namen aus diesen frühen Jahren –
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