Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)
Gemälde abgebildet, welches sich noch heute in amerikanischen Schulbüchern befindet: ›Sea Captains Carousing in Surinam‹ (etwa 1758 von John Greenwood gemalt, heute im St. Louis Art Museum), wo der Künstler verewigt, wie sich die Kapitäne bei einer Party auf der südostasiatischen Insel gründlich danebenbenehmen. Und Kapitän Abraham Whipple (1733–1819), der den Überfall und die Tötung Curwens schließlich leitet, ist eine der großen Gestalten der Lokalgeschichte. Im United States Naval Academy Museum kann man sein Porträt besichtigen, welches Edward Savage 1786 malte. Am 9. Juni 1772 leitete er den Überfall auf das Zollschiff »Gaspee«, eine wichtige Etappe in dem sich zuspitzenden Konflikt zwischen England und seinen amerikanischen Kolonien. Die geheimen Vorbereitungen auf diesen Überfall (die gut bekannt sind), insbesondere die rasche Einbeziehung der Honoratioren der Stadt, haben offensichtlich das Modell für den Überfall auf Curwens Landgut geliefert, wo es freilich um sehr viel sinistrere Dinge ging (und der, wie ich nicht betonen muss, natürlich ganz fiktiv ist). Das Stephen Hopkins House, wo jene ominöse letzte Beredung über Curwen stattfindet, steht noch heute an der Ecke Benefit Street, Hopkins Street. Erbaut um 1743, ist es von bescheidener, geschmackvoller Eleganz, wie alles, was noch heute vom Providence des 18. Jahrhunderts zu sehen ist. Für Whipples tollkühnen Wagemut 1772 findet ›The Case of Charles Dexter Ward‹ eine ganz eigene Erklärung: Er will die schrecklichen Erlebnisse von 1771 hinter sich lassen …
Ansonsten war Curwens auserkorener Wohnsitz eher hinterwäldlerisch. Regelmäßigen täglichen Kutschverkehr mit Boston gab es erst ab 1767. Die erste Orgel in einer Kirche (mit 200 Pfeifen) 1771/72 erregte noch Aufsehen, zumal es die erste Orgel in einer Dissenterkirche in Amerika überhaupt war (abgesehen von derjenigen im Jersey College, der heutigen Princeton University). Besonders hübsch sind die Geschichten über den Widerstand gegen die ersten Aufführungen von fahrenden Theatergruppen, die etwa in dieselben Jahre fallen. Die erste gebührenfreie Elementarschule wurde 1769 errichtet, wo vormals das Ortsgericht seinen Sitz hatte – auch dies übrigens gegen heftige Widerstände der ärmeren Bevölkerung (deren Steuern sie ja finanzierten). Es ist also eine strenge, fleißige, aber auch enge Welt, in der sich jener Joseph Curwen ansiedelt, der später als dunkler Schatten über Charles Ward lauert. Die Schilderungen von Sklavenhandel und Schmuggel, vom Konflikt mit den britischen Zollbestimmungen und überhaupt vom Leben der Stadt im 18. Jahrhundert sind ausnahmslos in allen Details zutreffend. 1762 gründete William Goddard die erste Druckerei in Providence, die am 20. Oktober desselben Jahres die erste lokale Zeitung produzierte: die Providence Gazette, die von 1762 bis 1825 unter verschiedenen Namen bestand. Auch dies wird von Lovecraft geschickt in die Handlung eingebaut. Eine frühe Werbung in dieser Zeitung macht uns auch mit der ersten Buchhandlung in Providence bekannt, wo man neben allerlei Unterhaltsamem auch ein Pulver kaufen konnte »for the Preservation of the Teeth; much esteemed by the Ladies«. Es versteht sich fast von selbst, dass ein historischer Geist wie Lovecraft nicht vergisst anzumerken, dass Curwens Geburtstag am 18. Februar 1662/3 im »old style« angegeben ist, also im julianischen Kalender; natürlich wusste er, dass die britische Regierung den gregorianischen Kalender erst am 2. September 1752 einführte (auf den dann also der 14. September »new style« folgte), übrigens gegen schärfsten Protest weiter Kreise (»Give us back our fortnight« wurde auf den Gassen Londons gebrüllt).
In der deutschen Übersetzung leider verloren gehen die sprachlichen Feinheiten, die Curwen und seine beiden Genossen noch 1771 (und dann natürlich im 20. Jahrhundert) die Sprache des 17. Jahrhunderts sprechen und schreiben lassen. Solche Subtilitäten wie die Unterschiede im Stil eines Briefschreibers von 1690 und 1770 entgehen freilich auch heutigen amerikanischen Lesern für gewöhnlich. In Lovecrafts Nachahmung der Sprache beider Jahrhunderte stimmt jedes Detail, was vor allem deshalb Hervorhebung verdient, weil heutige »fantastische Historienromane« in solchen Punkten gewöhnlich unendlich viel plumper sind.
Warum macht sich Lovecraft solche Mühe mit der geschichtlichen Präzision? Wäre ›Charles Dexter Ward‹ für ein breites Publikum
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