Chronik des Cthulhu-Mythos II (German Edition)
sahen.
Die Blumen waren klein, farblos und unscheinbar; sie blühten in geometrisch angelegten Beeten und – zahlreicher – in den Grünanlagen.
In einigen wenigen Terrassen- und Dachgärten fanden sich größere, lebhaftere Blüten von fast anstößigen Formen, die auf eine künstliche Züchtung hinzuwiesen schienen. Pilze von unvorstellbarer Größe, Form und Farbe sprenkelten die Gärten in Mustern, die eine unbekannte, aber kultivierte Gartenbautradition verrieten. In den größeren Gärten am Erdboden schien man die Unregelmäßigkeiten der Natur bewahren zu wollen, doch auf den Dächern wurde selektiver vorgegangen und auf die Schnittkunst Wert gelegt.
Die Luft war nahezu immer feucht, der Himmel bewölkt, und zuweilen erlebte ich gewaltige Regenfälle. Dann und wann gab es jedoch ein kurzes Zwischenspiel der Sonne – die mir abnorm groß erschien – und des Mondes, dessen Merkmale sich auf unbeschreibliche Weise von seinem uns gewohnten Bild unterschieden. Wenn der Nachthimmel einigermaßen klar war – was äußerst selten vorkam –, dann sah ich Sternbilder, die ich fast nicht wiedererkannte. Zwar näherten sie sich manchmal den mir bekannten Konstellationen, aber nur ganz selten stimmten sie völlig damit überein; anhand der Stellung der wenigen mir bekannten Konstellationen gewann ich den Eindruck, dass ich mich in der südlichen Hemisphäre der Erde befinden musste, nahe dem Wendekreis des Steinbocks.
Der Horizont war stets neblig und verschwommen, aber ich konnte erkennen, dass außerhalb der Stadt gewaltige Urwälder voller unbekannter Farne, Kalamiten, Schuppenbaumgewächse und Siegelbäume lagen, deren fantastische Wedel in den wirbelnden Dünsten höhnisch winkten. Dann und wann deutete etwas auf eine Bewegung am Himmel hin, doch konnte ich in den frühen Visionen nichts Genaues erkennen.
Im Herbst 1914 setzten die unregelmäßigen Träume von sonderbaren Flügen über der Stadt und dem Umland ein. Ich sah endlose Straßen; sie führten durch Wälder von furchteinflößender Größe voller gesprenkelter, gerillter und gestreifter Stämme und vorbei an anderen Städten, die ebenso fremdartig waren wie jene, die mich so beharrlich heimsuchten.
Ich sah monströse Bauwerke aus schwarzem oder irisierendem Gestein in Schneisen und auf Lichtungen, wo immerfort der Dämmer herrschte, und überquerte lange Brücken über Sümpfe, die so finster waren, dass ich ihre feuchte hochwachsende Vegetation nur erahnen konnte.
Einmal überblickte ich ein unzählige Meilen umfassendes Gebiet, über das sich uralte, verwitterte Basaltruinen erstreckten, deren Bauweise jener der wenigen fensterlosen, runden, spitz zulaufenden Türme in der Stadt glich.
Und einmal sah ich das Meer – eine grenzenlose dunstschwangere Ausdehnung jenseits der kolossalen Steinpiere einer riesigen Stadt voller Kuppeln und Bögen. Große unförmige Schatten bewegten sich über seine Oberfläche, und hier und da wurde es von unnormalen Fontänen aufgewühlt.
III
Wie ich bereits sagte, waren diese fantastischen Visionen nicht von Anfang an so erschreckend. Gewiss haben viele Menschen von wesentlich seltsameren Dingen geträumt – Dinge, die sich aus unzusammenhängenden Fetzen des Alltags, Bildern und Lektüre zusammensetzen und von den unbegreiflichen Launen des Schlafes zu neuen fantastischen Formen arrangiert werden.
Eine Zeit lang nahm ich die Visionen als etwas Natürliches hin, obwohl ich früher nie zu extravaganten Träumen geneigt hatte. Viele der nebulösen Anomalien, so sagte ich mir, mussten einen jeweils trivialen Ursprung haben, den ich nicht mehr zurückverfolgen konnte; andere schienen den Wissensstand der Lehrbücher über Pflanzen und andere Details der primitiven Welt von vor hundertfünfzig Millionen Jahren, dem Perm oder Trias, widerzuspiegeln.
Im Laufe einiger Monate trat das Element des Grauens jedoch mit steigender Kraft hervor. Das war zum selben Zeitpunkt, als die Träume den unwiderleglichen Anschein von Erinnerungen annahmen und ich sie mit meinen zunehmenden abstrakten Verstörungen in Verbindung brachte – dem Eindruck einer Beschränkung meines Gedächtnisses, den merkwürdigen Vorstellungen von der Zeit, dem Gefühl von einem widerwärtigen Austausch mit meiner Sekundärpersönlichkeit in den Jahren 1908–13 und, erheblich später, der unerklärlichen Abscheu vor meiner eigenen Person.
Als in den Träumen gewisse eindeutige Details auftauchten, steigerte sich ihr Grauen um ein Tausendfaches
Weitere Kostenlose Bücher