Chronik des Cthulhu-Mythos II (German Edition)
Blake. Dieser Name erinnert natürlich in bewusster Anspielung an Robert Bloch (der wie Blake nicht nur Autor, sondern auch ein passabler Zeichner war), aber Blakes Charakter hat mehr von Lovecraft selbst als von Bloch. Vor allem ist das Haus, in dem Blake wohnt, Lovecrafts eigener letzter Wohnsitz – präzise beschrieben und bis ins Detail identisch mit 66 College Street, wo er seit Mai 1933 mit einer Tante in lockerer Wohngemeinschaft lebte. Das schiere Ausmaß spielerischer autobiografischer Elemente in ›The Haunter of the Dark‹ kann den Lesenden zuerst verblüffen. Es erweist sich dann aber als eine bewusste Literarisierung des Tagtraums: Und gerade diese ungeschützte Integration ganz persönlicher Erfahrungen und Perspektiven mag einen Schlüssel für die Intensität und Frische von Lovecrafts Erzählung darstellen.
Neben Lovecrafts geliebtem College Hill ist es nun – sozusagen im Kontrast – Federal Hill, auf dem die Erzählung spielt. Dieses erhöht gelegene Stadtviertel hat bis heute ein ganz eigenes Gepräge, das in der Tat vor allem durch italienische Einwanderer geprägt ist. Der in solchen Fragen bekanntlich erzkonservative Neuengländer fand die Gegenwart so vieler »Fremder« in seiner Stadt irritierend. Anders als noch in Lovecrafts New-York-Novelle ›The Horror at Red Hook‹ (1925) ist die Haltung diesen Fremden gegenüber hier aber nicht mehr Hass und Verachtung, sondern längst eine gesunde Neugier. Lovecraft war auch in diesem – seinem problematischsten – Persönlichkeitsanteil allmählich erwachsen geworden. 1850 hatten nur etwa fünfundzwanzig Italiener auf Federal Hill gelebt, in den von Lovecraft bewusst miterlebten Jahren 1898–1932 sind dann allein über den Hafen von Providence 54 973 Einwanderer aus Italien nach Providence gekommen. 1940 lebten auf Federal Hill über 40 000 italienisch-stämmige Amerikaner. (In den 1950er-Jahren gab es dann noch eine letzte große Einwandererwelle). »Coletto« (den »kleinen Hügel«) nennen die Italo-Amerikaner »ihren« Hügel, und in der Tat entspricht das Straßenbild bis heute vielfach jenem, das der Europäer aus Italien gewohnt ist. Es geht laut und lebhaft zu, wenn auch heute die vielen Straßenkarren und Verkaufsbuden keine so große Rolle mehr spielen wie zu Lovecrafts Zeiten. Dabei muss man sich auch deutlich machen, dass Providence im Sommer ein extrem heißes Klima hat und die Temperatur Grade wie in Süditalien erreicht (die Winter dagegen sind sehr kalt und schneereich). Die italienischen Straßennamen, die Geschäfte mit italienischen Waren, das temperamentvolle Reden und Gestikulieren der Italiener waren für Lovecraft wie ein Stück Südeuropa, das in seine Heimatstadt verpflanzt worden war.
Sehr befremdlich für den Neuengländer waren auch die zahlreichen Heiligenfeste mit ihren pompösen Straßenumzügen und nächtlichen Feuerwerken (beides wird in ›The Haunter of the Dark‹ erwähnt). Hinzu kommt, dass der stabile Katholizismus der Italiener in Neuengland nach wie vor großes Misstrauen auslöste; Katholiken traute man nahezu alles an abergläubischen Dummheiten zu. (Dieses Misstrauen brodelte ein weiteres Mal in den USA hoch, als J. F. Kennedy Präsident werden wollte, der erste Katholik, dem dies dann tatsächlich gelang). Das bunte Leben auf der Straße war für Lovecraft trotz seines weiten Horizontes verwirrend: nur das vorzügliche Eis der Italiener konnte er rundherum schätzen. Wer einen Eindruck von Federal Hill in Lovecrafts Tagen gewinnen will, sei auf Joe Fuoco, Federal Hill – Images of America, Dover, NH 1996 verwiesen, eine kommentierte Sammlung von etwa 200 Fotografien des alten Federal Hill und seiner Menschen meist gerade aus jenen Jahren, zu denen ›The Haunter of the Dark‹ spielt. Unheimlich ist hier allerdings nichts, und dem Europäer, der Italien und andere südeuropäische Länder zumindest als Tourist kennt, will es nicht gelingen, Lovecrafts Gefühle wirklich zu verstehen. Federal Hill und College Hill stehen sich in unserer Erzählung als zwei Gesichter der gleichen Stadt gegenüber: ihr respektabel-vornehmes, aber auch ihr irrational-leidenschaftlich-dämonisches. Wie immer bei Lovecraft wird die reale Landschaft zu einer »Seelenlandschaft«, einem Ort tiefer symbolischer Bezüge, die zusammengenommen eine Seelenmetapher sind.
Die katholischen Kirchen auf Federal Hill wirken auf den dezenten und um Zurückhaltung bemühten Neuengländer ungeheuer protzig, überladen mit Bildern
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