Chronik des Cthulhu-Mythos II (German Edition)
sich meiner starken Abneigung ein subtiles, eigenartiges Gefühl der Lockung hinzuzugesellen; und merkwürdigerweise fand ich das verstörender als den ursprünglichen Eindruck.
Auf der Straße sahen wir keinen Menschen, passierten aber bald verlassene Bauernhöfe in verschiedenen Stadien des Verfalls. Dann bemerkte ich ein paar bewohnte Häuser mit Tüchern anstelle der zerbrochenen Fensterscheiben und Muschelschalen und toten Fischen in den schmutzigen Höfen. Ein- oder zweimal sah ich apathisch aussehende Menschen in unfruchtbaren Gärten arbeiten oder an dem von Fischgeruch erfüllten Strand weiter unten nach essbaren Muscheln graben, sowie Gruppen von schmutzigen affengesichtigen Kindern, die vor unkrautüberwucherten Eingängen spielten. Auf irgendeine Weise wirkten diese Menschen beunruhigender als die trostlosen Gebäude, denn fast alle von ihnen wiesen befremdliche Eigenartigkeiten des Gesichts auf und bewegten sich seltsam. Ich verspürte instinktiv eine Abneigung gegen diese Menschen, ohne dies erklären zu können. Eine Sekunde lang glaubte ich, dieses typische Aussehen gemahne mich an ein Bild, das ich unter besonders abscheulichen oder traurigen Umständen vielleicht in einem Buch gesehen hatte; doch diese vermeintliche Erinnerung verging rasch wieder.
Als der Bus eine tiefere Ebene erreichte, vernahm ich in der unnatürlichen Stille allmählich das stete Plätschern eines Wasserfalls. Die schiefen unbemalten Häuser wurden zahlreicher, standen zu beiden Seiten der Straße und wirkten städtischer als jene, die wir hinter uns gelassen hatten. Das Panorama vor uns hatte sich zu einer Straßenszenerie verengt, und stellenweise erkannte ich, dass es früher ein Kopfsteinpflaster und Bürgersteige aus Ziegelsteinen gegeben hatte. Alle Häuser waren dem Anschein nach verlassen, und gelegentlich gab es Lücken, wo baufällige Schornsteine und Kellerwände von Gebäuden zeugten, die eingestürzt waren. Alles durchdringend lag der widerlichste Fischgeruch, den man sich vorzustellen vermag, über dem Ort.
Bald trafen wir auf Kreuzungen; die Straßen auf der Linken führten zu küstennahen Gegenden ungepflasterten Schmutzes und Verfalls, derweil die zur Rechten Visionen einstiger Pracht offenbarten. Bislang hatte ich in der Stadt noch keinen Menschen gesehen, doch nun erschienen Anzeichen einer spärlichen Bewohnung – Vorhänge an Fenstern hie und da und ein zerbeultes Automobil an der Bordsteinkante. Pflaster und Bürgersteige waren hier besser erhalten, und obschon die meisten der Häuser recht alt waren – Holz- und Ziegelbauten vom Anfang des 19. Jahrhunderts –, wurden sie offensichtlich bewohnbar gehalten. Als Amateur-Historiker vergaß ich fast meinen Ekel vor dem Geruch und meine Empfindung von Bedrohung und Abscheu angesichts dieser reichen unveränderten Überbleibsel aus der Vergangenheit.
Doch ich sollte mein Ziel nicht erreichen, ohne zuvor noch einen ausgesprochen unangenehmen Eindruck zu erhalten. Der Bus fuhr auf einen offenen Platz mit Kirchen zu beiden Seiten und den vertrockneten Überresten einer runden Grünfläche in der Mitte und ich betrachtete eine große, säulengeschmückte Halle an der Straßenkreuzung zur rechten Hand. Die vormals weiße Farbe des Bauwerkes war nun grau und blätterte ab, und das schwarze und goldene Schild auf dem Giebel war so verblasst, dass ich nur mit Mühe diese Worte entziffern konnte: ›Esoterischer Orden des Dagon‹. Dies war also die ehemalige Freimaurerhalle, die nun einem entarteten Kult gehörte. Als ich meine Augen anstrengte, um diese Inschrift zu erkennen, wurde meine Aufmerksamkeit von den rauen Tönen einer gesprungenen Glocke auf der anderen Straßenseite abgelenkt, und ich wandte mich rasch um, um auf meiner Seite des Wagens aus dem Fenster zu schauen.
Das Geräusch drang aus einer Steinkirche mit flachem Turm, die eindeutig späteren Datums als die meisten anderen Häuser war, erbaut in einer plumpen Gotik mit unverhältnismäßig hohen Grundmauern und verschlossenen Fenstern. Obgleich die Zeiger der Uhr auf der mir sichtbaren Seite fehlten, wusste ich, dass diese rauen Schläge die elfte Stunde verkündeten. Dann wurden alle Gedanken an die Zeit mit einem Mal von einem anstürmenden Bild heftiger Intensität und unerklärlichen Grauens verdrängt, das mich traf, ehe ich wusste, was es wirklich war. Die Kellertür der Kirche stand offen und enthüllte ein schwarzes Rechteck im Innern. Und während ich hinsah, schien etwas jenes dunkle
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