Chronik des Cthulhu-Mythos II (German Edition)
erhoben. Und nahe der Küste am gegenüberliegenden Flussufer sah ich den weißen Glockenturm über dem Gebäude, das ich für die Marsh-Raffinerie hielt.
Aus irgendeinem Grunde entschied ich, meine ersten Nachforschungen in dem Lebensmittelladen der Kette anzustellen, dessen Personal aller Wahrscheinlichkeit nach nicht aus Innsmouth stammen würde. Ich fand dort einen einsamen Jungen von ungefähr siebzehn Jahren als Geschäftsleiter und war erfreut über seine Klugheit und Liebenswürdigkeit, die mir bereitwillige Auskünfte zu versprechen schien. Er erweckte einen außergewöhnlich redefreudigen Eindruck, und ich erfuhr bald, dass er diesen Ort nicht mochte, den Fischgeruch nicht und nicht die heimlichtuerischen Menschen. Jedes Wort mit einem Fremden war ihm eine Erleichterung. Er stammte aus Arkham, wohnte bei einer Familie aus Ipswich und fuhr nach Hause, sobald sich ihm ein freier Moment bot. Seiner Familie gefiel es nicht, dass er in Innsmouth arbeitete, doch man hatte ihn hierher versetzt, und er wollte seine Stellung nicht aufgeben.
Es gab, so sagte er, keine öffentliche Bücherei oder Handelskammer in Innsmouth, aber ich könnte meinen Weg vermutlich auch so finden. Die Straße, die ich entlanggegangen war, hieß Federal Street. Westlich davon lagen die guten alten Wohngegenden – Broad, Washington, Lafayette und Adams Street – und östlich davon die zur Küste gelegenen Elendsviertel. In diesen Elendsvierteln – entlang der Main Street – würde ich die alten georgianischen Kirchen finden, doch waren sie alle längst aufgegeben worden. Ich sei gut beraten, mich in dieser Gegend – insbesondere nördlich des Flusses – nicht allzu verdächtig zu verhalten, da die Menschen dort mürrisch und feindselig seien. Dort seien sogar schon einige Fremde verschwunden.
Gewisse Stellen seien fast verbotenes Territorium, wie er zu seinem Nachteil selbst erfahren hatte. Man dürfe zum Beispiel nicht lange in der Nähe der Marsh-Raffinerie, einer der noch benutzten Kirchen oder der säulengeschmückten Halle des Dagon-Ordens in New Church Green verweilen. Diese Kirchen seien sehr sonderbar – alle hätten sie sich nachdrücklich von ihren früheren Bekenntnissen losgesagt und benützten nun anscheinend die merkwürdigsten Zeremonien und Sakralgewänder. Ihre Glaubenslehren seien heterodox und rätselhaft und spielten auf gewisse wundersame Verwandlungen an, die zur körperlichen Unsterblichkeit – einer gewissen Sorte – auf dieser Welt führten. Der eigene Pastor des jungen Mannes – Dr. Wallace von der methodistisch-episkopalen Kirche von Ashbury – hatte ihn feierlich dazu angehalten, keiner Kirche in Innsmouth beizutreten.
Was die Menschen von Innsmouth anbelangte – so wusste der junge Mann kaum, was er von ihnen halten sollte. Sie seien sehr verstohlen und zeigten sich selten, wie Tiere, die in Höhlen lebten, und man könne sich kaum vorstellen, womit sie, abgesehen von ihrer ungeregelten Fischerei, ihre Zeit zubrachten. Vielleicht befanden sie sich – nach den Mengen illegal gebrannten Schnapses zu urteilen, die sie verzehrten – den Großteil des Tages in alkoholischer Betäubung. Sie schienen durch ein mürrisches Verständnis miteinander verbunden – sie verachteten die Welt, als hätten sie Zugang zu anderen und vorzüglicheren Daseinssphären. Ihr Aussehen – insbesondere jene starren lidlosen Augen, die man nie geschlossen sah – sei ohnehin schon bestürzend genug, und ihre Stimmen seien ekelhaft. Es sei grässlich, sie des Nachts in ihren Kirchen singen zu hören, besonders während ihrer wichtigsten Feste oder Erweckungsfeiern, die zweimal jährlich am 30. April und am 31. Oktober stattfänden.
Sie hegten eine große Vorliebe fürs Wasser und schwammen viel, sowohl im Fluss als auch im Hafen. Wettschwimmen hinaus zum Teufelsriff würden recht häufig ausgetragen, und alle schienen gut dazu befähigt, an diesem anstrengenden Sport teilzunehmen. Dächte man einmal darüber nach, so sähe man in der Öffentlichkeit im Allgemeinen nur ziemlich junge Leute, von denen die ältesten in der Regel sehr abstoßend ausschauten. Fände sich mal eine Ausnahme, seien dies zumeist Personen ohne eine Spur von Abweichung, wie etwa der alte Portier im Hotel. Man müsse sich die Frage stellen, was eigentlich aus der Mehrzahl der älteren Menschen würde und ob der ›Innsmouth-Look‹ nicht etwa eine fremdartige und heimtückische Krankheit sei, die im Laufe der Jahre immer weiter um sich
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