Chroniken der Dunkelheit - 01 - Eisdrache
schläfrig. Seine Augen fielen ihm zu.
»Zumindest bin ich nicht heruntergefallen«, murmelte Elsa. Dann hörte er sie schon regelmäßig atmen und kurz darauf schlief er selbst ein.
Er träumte, er sei zu Hause in Noviomagus und fünf Jahre alt. Sein Vater war nicht da, doch Aelfred leistete ihm und Branwen Gesellschaft. Es war Herbst und im folgenden Jahr würde Aelfred nach Gallien fahren und sechs Rappen kaufen. Adrians Onkel war inzwischen ein erwachsener Mann, vielleicht zwanzig Jahre alt, was ihn allerdings nicht daran hinderte, mit Adrian ausgelassen am See zu spielen. Sie hatten soeben Adrians Lieblingsspiel gespielt – einen Zweikampf mit Holzschwertern, bis eine Schar stattlicher weißer Gänse in empörtes Geschrei ausbrach.
Im nächsten Augenblick sammelten sie Brombeeren. Adrian rannte eine von hohen, gelb werdenden Ulmen gesäumte Allee entlang zu den nächsten Brombeerbüschen, sein Onkel marschierte hinter ihm her. Adrians Hände und Gesicht waren mit rotem Saft verschmiert und die Schüssel, die er trug, wackelte beim Laufen, sodass immer wieder Beeren herausfielen.
»Lauf nicht so schnell, kleiner Gänserich!«, rief Aelfred. Gänserich war sein Kosename für Adrian, weil sich am See so viele Gänse tummelten. Aelfred hatte wie seine Schwester Branwen braune Haare und schwarze Augen und neckte Adrian stets wegen seiner hellen Haut und Haare. »Im Schnee würden wir dich gar nicht finden!«, pflegte er zu sagen. Jetzt hatte er Adrian eingeholt und betrachtete kritisch die dunkelroten Flecken um seinen Mund. »Bevor wir reingehen, müssen wir dir den Mund abputzen – so können wir nicht vor deiner Mutter erscheinen!«
Adrian stand mitten in den Brombeerbüschen, in der Hand die Schüssel. Sein Onkel hielt ihn hoch, damit er an die dicken Beeren ganz oben herankam. Stacheln verfingen sich in seinen Kleidern und stachen ihn in die Arme. Er achtete nicht darauf, streckte die Hand nach einer schwarz glänzenden Beere aus und zog sie hastig wieder zurück. Aus den graugrünen Blättern eines überhängenden Weißdornastes blickte ein Auge auf ihn herab – das schwarz glänzende, runde Auge eines Vogels. Der Vogel hob den Kopf und breitete die Flügel aus. Hinter dem Busch kam ein riesiger Rabe zum Vorschein. Er krächzte einmal heiser, dann griff er Adrian ohne Vorwarnung mit vorgestrecktem Schnabel an.
Der Arm des Onkels, der ihn stützte, verschwand. Adrian fiel nach hinten und schlug im Fallen die Arme vor das Gesicht, um sich gegen die Schnabelhiebe und Krallen des Raben zu schützen. Er schlug hart auf dem Boden auf und kroch in Panik weg – doch kein Angriff erfolgte. Vorsichtig öffnete er die Augen und sah, wie der Rabe sich mit mächtigen Flügelschlägen langsam entfernte. Es war Nacht und auf dem Boden unter sich spürte er nicht Gras, sondern Stein.
Er lag in einem großen, dämmrig erleuchteten und mit seltsamen, ihm unbekannten Gegenständen angefüllten Zimmer – seltsame Apparaturen aus Holz und Eisen. Er wusste nicht, wozu sie dienten, doch sie machten ihm Angst.
Plötzlich bewegte sich etwas. Er zuckte erschrocken zusammen und merkte erst jetzt, dass sich außer ihm noch jemand im Zimmer befand – Elsa. Sie stand bei einem eisernen Gestell. Oder nein, sie stand nicht, sie war an ihm festgebunden und ihre Füße hingen in der Luft. Sie strampelte wie verrückt und weinte lautlos und mit schmerzverzerrtem Gesicht.
Aus dem Schatten trat eine Gestalt mit einer Kapuze hervor. In ihrer Hand blitzte im Licht der Kerzen etwas auf – eine Klinge? Adrian wollte schreien und zu Elsa rennen, doch er konnte sich nicht rühren, als hielten ihn die Brombeerranken wieder fest. Etwas umklammerte ihn von allen Seiten, er wusste nur nicht, was. Er strampelte, um sich zu befreien, doch vergeblich. Ihm wurde übel. Hilflos musste er mit ansehen, wie der Schatten sich Elsa näherte.
14. KAPITEL
Elsa fuhr hoch. Adrian hatte sie aufgeweckt – er hatte geschrien. Sie sah ihn an, doch er schlief noch. Seufzend streckte sie sich. Alle Knochen taten ihr weh, und beim Beugen der Knie protestierten die Muskeln in ihren Beinen. Der Boden der Höhle war feucht, und wenige Meter entfernt tropfte der Regen von der Decke. Draußen war es grau und trüb, und sie hätte unmöglich sagen können, wie lange sie geschlafen hatte.
Wieder sah sie Adrian an und überlegte, ob sie ihn wecken sollte. Er fuchtelte mit den Händen und hin und wieder stöhnte er. Seit ihrer ersten Begegnung auf der Spearwa
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