Chroniken der Dunkelheit - 01 - Eisdrache
schien er abgemagert und auch älter geworden zu sein, als hätten die vergangenen Tage ihn übermäßig beansprucht. Sein Gesicht leuchtete weiß durch den Walnusssaft und der Schnitt an seinem Kinn war entzündet und geschwollen.
Die Flucht vom Vorabend fiel ihr wieder ein. Sie setzte sich auf und sah sich nach Cluaran um. Er war verschwunden. Sie hatte bemerkt, wie er das Schwert angestarrt hatte. Er hatte es gekannt, und für einen kurzen Augenblick war ein erregtes Funkeln in seine Augen getreten. Doch auf dem langen Ritt zur Höhle hatte er nicht davon gesprochen und sie auch nicht gefragt, woher sie es hatte und woher sie wusste, dass es durch eine steinerne Säule schneiden und ihren Verfolgern damit den Weg versperren konnte.
Adrian regte sich. Sie sah, dass er aufgewacht war und sie anstarrte. Er wirkte unruhig und der Blick seiner blauen Augen war gehetzt.
»Elsa!«, murmelte er.
»Ich bin da«, sagte sie.
Sie sah, wie er den Kopf schüttelte, als wollte er seine Gedanken ordnen. Bevor sie ihn nach seinem Traum fragen konnte, betrat Cluaran die Höhle. Sein Mantel war mit winzigen Tröpfchen übersät und die Haare klebten ihm am Kopf.
»Frühlingswetter«, brummte er mit einem Nicken auf den Regen. »Aber egal, wir müssen sofort aufbrechen. Die Wächter geben nicht so leicht auf.« Er trat zu Adrian und untersuchte die Wunde an seinem Arm. »Du wirst eine Narbe zurückbehalten«, sagte er, »ansonsten heilt der Arm gut. Kannst du reiten?«
Adrian nickte. Elsa blickte dem Ritt mit Bangen entgegen, doch sie folgte den anderen zu den Pferden, die auf dem vom Regen durchnässten Hang vor der Höhle grasten. Unter ihnen erstreckte sich Wald. Sie sah hohe Eichen, Buchen und Kastanien, deren erste Blätter bereits durch die Knospen brachen. Dahinter, in der Ferne, schimmerte bräunlich ein Fluss.
»Wir reiten in diese Richtung«, sagte der Sänger und streckte den Arm aus. »Wir überqueren den Fluss und brauchen auf den Waldwegen dann noch zwei Tage bis Venta.«
Mit steifen Gliedern kletterte Elsa auf ihre alte Stute. Bei jeder Bewegung fuhren ihr stechende Schmerzen durch die Muskeln, aber wenigstens hatte sie keine Angst mehr herunterzufallen. Mit zusammengebissenen Zähnen folgte sie den anderen. Nach einer Weile ließ Adrian sich zurückfallen und ritt neben ihr. Er hielt seinen linken Arm von sich weg, als habe er immer noch Schmerzen, doch er ritt mit einer Mühelosigkeit, um die Elsa ihn nur beneiden konnte.
»Halte die Flanken des Pferdes mit den Knien fest«, riet er ihr.
»Ich würde lieber gehen«, gestand sie. »Noch ein solcher Tag und ich werde nie mehr sitzen können.«
»Das denkt man am Anfang immer«, sagte er. »Aber du gewöhnst dich bald daran und deine Stute ist ein braves Tier. Die wirft dich nicht ab.« Seine Miene änderte sich, als sei ihm etwas eingefallen, was ihn quälte. »Der Pfad ist schmal«, sagte er unvermittelt. »Ich reite hinter dir.« Er hielt an. Auf seinem Gesicht lag ein seltsamer Ausdruck. Sorge? Aber warum sollte er sich um sie sorgen? Schließlich war er es, der verletzt war.
Sie ritten auf selten benutzten Wegen. Die Pferde zwängten sich durch das Gestrüpp des Vorjahres und hoben hin und wieder die Köpfe, um ein Maulvoll neuer Triebe von den Ästen abzureißen. Elsa gewöhnte sich langsam an den Sattel. Plötzlich blieb Cluarans Wallach mit zuckenden Ohren und geblähten Nüstern stehen. Auch ihre Stute hielt an und wieherte aufgeregt. Cluaran stieg ab und beruhigte sein Pferd.
»Was hat die Pferde erschreckt?«, fragte Elsa.
»Ein wildes Tier – vielleicht ein Wildschwein. Wildschweine gibt es hier im Wald viele.« Cluaran flüsterte seinem Pferd etwas ins Ohr, bis es sich beruhigte. Dann stieg er wieder auf und trabte so flott voraus wie zuvor. Doch Elsas Stute hielt die Ohren weiter angelegt und bewegte den Kopf unruhig hin und her.
Elsa tätschelte ihren zotteligen braunen Hals und gab einige, wie sie hoffte, beruhigende Laute von sich. Dann hatte sie eine Idee. Sie drehte sich zu Adrian um.
»Halten sich denn wilde Tiere in der Nähe auf?«, rief sie leise. »Kannst du durch ihre Augen sehen?«
Adrian warf Cluaran, der vorausritt, verstohlen einen Blick zu. Dann erschien auf seinem Gesicht der nach innen gekehrte Ausdruck, den Elsa schon von der Nacht im Moor und der Bude des Schaustellers in Glastening kannte.
»Ja«, sagte er endlich, »es gibt wilde Tiere. Aber sie beachten uns nicht.«
Elsa betrachtete ihn fasziniert. Wie musste es
Weitere Kostenlose Bücher