Chroniken der Jägerin 3
die Augen immer noch geschlossen. »Einige Dinge müssen so bleiben, wie sie sind.«
Sie runzelte die Stirn. »Du bist verrückt.«
»Und was bist dann du?«
»Erschaffen«, sagte sie und richtete sich auf. »Erschaffen von den Händen meines Schöpfers.«
»So wie ich auch.«
»Du bist nicht geschaffen worden. Nicht so wie ich.«
»Jeder von uns hat seine eigene Daseinsform.«
»Ich bin die Wächterin meines Schöpfers. Ich habe keinen eigenen Weg.«
»Aber auch das ist doch ein Weg, genauso wie meiner.« Grant zwang sich, ein Auge zu öffnen, und blinzelte sie an.« Niemand besitzt dich. Aber das Gleiche gilt auch umgekehrt. Du bist nicht besser als irgendein anderer, gleichgültig, zu was du fähig sein magst.«
Ihre Augen verengten sich, aber sie sagte nichts mehr. Sie stand bloß auf und entfernte sich. Ich kam auf die Füße und half Grant, sich neben mir aufzurichten. Er knirschte die ganze Zeit mit den Zähnen und stieß die Luft mit einem langen Zischen aus, während ich ihm den Stock in die Hand drückte und er seinen anderen Arm um meine Schultern legte. Ich stützte sein Gewicht.
Dann traf ich auf den Blick der Botin. »Hast du inzwischen über das nachgedacht, worüber wir diskutiert hatten?«
Ihre Lippen verdünnten sich zu einem unangenehmen Strich.
»Ihr wollt also, dass ich an eurer Seite kämpfe?«
»Wir brauchen deine Hilfe, um den Gefängnisschleier zu schließen«, sagte Grant.
»Der Schöpfer sagt, dies sei nicht möglich.«
»Der Schöpfer war zu voreilig. Wir werden es versuchen.« Grant beugte sich vor. »Du weißt überhaupt nicht mehr, wer du bist. Du kennst deinen eigenen Wert nicht mehr. Aber das
liegt nur daran, dass du niemals die Gelegenheit hattest, du selbst zu sein oder eine eigene Entscheidung zu treffen. Was auch immer du jetzt und hier entscheidest – es wird deine eigene Wahl sein. Es ist dein Leben.«
Es war keine Manipulation aus seiner Stimme herauszuhören, jedenfalls lag sie nicht in dem, was er ihr erzählt hatte, höchstens – vielleicht – in dem Gewicht, das der Bedeutung seiner Worte eignete.
Doch noch ein wenig Priester , dachte ich. Der aus viel mehr bestand als nur aus der Magie seiner Stimme. Wenn er seine Gabe verlieren sollte, würde er trotzdem Grant Cooperon sein. Jemand, der in der Lage war, ein Leben zu verändern, und zwar mit nichts als seiner Überzeugung und seinem Glauben.
Ich fragte mich, was ich ohne meine Dämonen und die Finsternis in mir wohl wäre. Besser oder schlechter? Oder wäre ich bloß eine Frau mit einer Vierzig-Stunden-Woche, die ihr Bestes gab, um eine andere Art von Leben zu meistern?
Wie wäre es, die andere Seite des Lichts nie gekannt zu haben?
Die Botin betrachtete erst Grant, dann mich.
»Ich werde es tun«, sagte sie langsam, »und dann werden wir ja sehen.«
»Ich hoffe, dass du eine ganze Menge siehst«, sagte Grant.
18
I ch habe niemals den Namen des Dorfes erfahren, aus dem die Männer verschleppt worden waren.
Dorthin ließ ich Grant und mich von der Botin bringen. Wir nahmen zwei Leichen mit und einen Mann, der zwar noch lebte, aber nicht mehr bei Bewusstsein war. Wir ließen sie am Straßenrand zurück, unter einer Palme an den Ausläufern des Dorfes, das aus rechteckigen Häusern mit blassen Steinwänden bestand, die farblich genau zu der Felswand passten, die sich im Hintergrund auftürmte. Ein Hund bellte uns an. Aus der Entfernung hörte ich arabische Popmusik.
An einer Straßenbiegung tauchten zwei kleine Mädchen in einfachen, grünen Kleidern auf. Als sie uns sahen, blieben sie stehen und schrien laut auf.
Die Botin blieb unbeeindruckt. Sie sah die verstörten Kinder an und schaute dann lange und angestrengt in die Richtung des Dorfes.
»Das erinnert mich an den Ort, in dem ich geboren wurde«, sagte sie. »Ich durfte nicht viel von dem sehen, was sich hinter den Wänden befand. Die Wüste war groß und bedeckte die ganze Welt.«
Ich machte große Augen. Genauso wie Grant. Die Botin sah uns an und neigte den Kopf.
»Das Labyrinth ist auch unermesslich«, sagte sie und verschwand aus unserem Blickfeld.
Ich nahm Grant bei der Hand und folgte ihr.
Wir fielen ins Apartment in Seattle. Noch immer war Nacht.
Die Jungs rissen sich von meinem Körper los. Vor Schmerz biss ich die Zähne zusammen und zerquetschte Grant förmlich die Hand, bis alles vorbei war und sich der Rauch, der noch kurz zuvor meine Tätowierungen gebildet hatte, zu kleinen harten Körpern verdichtet hatte, die wie
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