Chroniken der Jägerin 3
zu den Zehen auszufüllen schien. Ich hatte ein Gefühl, als ritte ich auf dem Kamm einer Riesenwelle, die mich mit Macht und Anmut immer höher trug.
Weil wir so sind , flüsterte sie, weil wir die Macht darstellen .
Macht. Ich könnte mich für die Macht entscheiden. Aber diese Wahl würde Konsequenzen haben.
Dies wiederholte ich für mich. Wieder und wieder. Währenddessen klammerten sich Rohw und Aaz eng an meine Beine und knurrten sanft. Die Stacheln von Zees Haaren und jene auf seiner Wirbelsäule waren aufgerichtet. Die Krallen schleiften durch den Dreck.
»Ha’an«, schnarrte er. »Ist lange her.« Die Stimme des Dämons brach das Schweigen. »Lange genug, um dem Sonderbaren Raum zu gewähren. Du hast nachgelassen, genau wie deine Brüder. Ihr habt das Alte nicht mehr in den Leibern.«
»Aber die Macht«, entgegnete Zee. »Genug Macht, um dich zu töten.«
»Jederzeit«, antwortete Ha’an ohne ein Anzeichen von Furcht oder Zorn. »Und euer Menschenwirt? Ihr seid an sie gebunden, das habe ich schon gespürt, aber ich konnte es nicht verstehen.«
»Aetar«, schnarrte Zee.
Ha’an nickte nachdenklich. »Die werden wir auch wieder jagen. Wenn wir hier fertig sind.«
»Ihr seid schon fertig«, sagte ich und trat einen Schritt nach vorn. »Die Leben, die ihr heute genommen habt, das waren zu viele.«
»Ich hatte es doch angekündigt. Ich hatte dir ja gesagt, dass ich meine Leute nicht hungern ließe.«
Ich deutete auf die verstreuten Überreste auf dem Boden vor ihm. »Das da waren auch Leute. Ihr könnt doch etwas anderes essen.«
»Vieh?«, fragte Ha’an verächtlich. »Wohl eher nicht.«
»Besser als dein eigener Arm.«
Er zog die Augen zu Schlitzen zusammen und blickte zu Zee hinunter. »Wie kann es sein, dass sie ein Menschenwirt ist und trotzdem nicht weiß, was wir brauchen?«
»Andere Zeiten, andere Bedürfnisse«, lautete Zees simple Antwort. »Sie ist unsere Königin.«
Ha’an zuckte zusammen. »Aber ihr seid noch immer unsere Könige.«
Zee zog die Krallen durch die Erde. Seine Stacheln streckten sich vor Erregung. »Eure, ihre. Zusammen.«
Der Mahati-Lord lehnte sich zurück und fixierte mich mit funkelndem Blick. »Ich kann spüren, wie das Alte unter ihrer Haut atmet. Mein Verstand sagt mir, dass sie ein Menschenwirt ist. Aber sobald ihr ihren Körper nicht mehr umschlingt, wird sie zu menschlich sein. Die anderen werden sie nicht als ihre Königin akzeptieren.«
»Sie müssen es aber«, beschied ihm Zee. »Ihr müsst es.«
Ha’an warf zuerst ihm einen langen, undurchdringlichen Blick zu und dann mir. Er ließ seine Zurückhaltung fahren, hob sein Kinn und sagte herausfordernd: »Du da, mit dem Fett und dem Fleisch über den Knochen, weißt du überhaupt, wie es ist, so viel Hunger zu haben, dass man sein eigenes Fleisch essen muss, um zu überleben?«
»Weißt du es denn?«, fragte ich kühl zurück. »Du siehst jedenfalls noch ziemlich unversehrt aus.«
Eine furchterregende Ruhe überkam ihn. Ich wäre fast zurückgesprungen, aber Rohw stemmte sich gegen mein Bein
und sorgte dafür, dass ich blieb, wo ich war. Bekräftigend legte Dek eine Klaue auf mein Ohr.
»Die Hatz«, flüsterte er, »gilt nicht nur dem Fleisch. Damit sättigen wir vielleicht unsere Bäuche, aber nicht unsere Seelen.«
»Ihr jagt nach Schmerzen«, entgegnete ich.
»Der Schmerz besitzt eine große Kraft«, antwortete Ha’an, als ob damit schon alles erklärt wäre. »Würde Vieh schon ausreichen, dann würden wir eben diese trägen Biester benutzen. Aber Verstand, träumender Verstand, macht stark, schmeckt, sickert in jede Zelle, mit jedem Blutstropfen, mit jedem geknackten Knochen. Er hat die Kraft, die wir brauchen, um stark zu sein.«
Du hast doch längst davon gekostet , sagte die Finsternis. Du hast doch schon gelebt und genossen, wovon er erzählt. Stell dir vor, wie es ist, im Glanz Zehntausender Seelen zu baden, wenn sie vor deinen Füßen zermalmt und ausgelöscht werden. In jenem letzten Augenblick erreicht die Schlemmerei ihren Höhepunkt.
Ich starrte in Ha’ans grüne Augen und versuchte, nicht zu zittern, trotz der schrecklichen, unbeschreibbaren Gier, die mir die Kehle hochstieg. »Nehmt, was ihr schon habt, aber nicht mehr. Und kehrt in den Schleier zurück.«
Ha’an fixierte mich mit festem, ausdruckslosem Blick. »Und wenn ich es nicht tue?«
Ich sah zu Rohw und Aaz hinunter. Sie stürzten sich wie Geschosse aus Zähnen und Klauen auf die nächststehenden Mahati. Ich zwang
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