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Chroniken der Jägerin 3

Chroniken der Jägerin 3

Titel: Chroniken der Jägerin 3 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Liu
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und verlangend, und ich verstummte. Ich hätte diesen Kuss gar nicht spüren dürfen, aber ich tat es, weil die Jungs es zuließen. Seine Wärme rieselte durch meine Muskeln und Knochen.
    Mein erster Kuss.
    Grant presste seine Wange gegen meine Hand und ließ mich los. »Zieh dich lieber an«, sagte er dann heiser. »Irgendjemand wird schon bald nach uns suchen. Vielleicht kommt jemand herauf.«
    Ich nickte, weil es mir die Sprache verschlagen hatte. Ich sperrte die Wohnungstür ab, dann ging ich an ihm und Mary vorbei ins Badezimmer. Dabei riskierte ich einen Blick auf Jacks Leichnam, den noch immer ein Laken bedeckte. Mein Großvater. Gelobt sei sein Licht.
    Langsam fing er an zu stinken.
    Grant spielte auf der Flöte. Eine klagende Melodie erfüllte die Luft, ein süßer Schmerz durchzog meine Brust wie eine Klinge aus reinstem Licht. Das war frühes Licht, Morgenlicht, der sanfte Glanz des Morgens, der die Fenster erfüllte und Laken und Haut erwärmte.
    Ich spürte das Licht in mir, als ich seine Musik hörte. Ich spürte, wie fünf Herzen gegen meine Haut schlugen, regelmäßig zum Auf- und Abschwellen vollendeter Töne. Fünf Herzen und mein eigenes, wir alle zusammen, wie eines.
    Und ein sechstes bemerkte ich. Ein sechster Herzschlag, der sanft unter meinem Herzen pochte.
    Kaum da und schon wieder verschwunden. Ich berührte den Punkt, atemlos. Wartete, um es noch einmal zu spüren.
    Ich wartete sogar noch, als ich längst damit begonnen hatte, mir etwas zum Anziehen zu suchen.

9
    I ch wollte mich vom Badezimmerspiegel fernhalten. Ein einziger Blick hatte schon genügt. Ich war kahl, und mein gesamter Kopf war mit Tätowierungen übersät. Ich sah wie der Clown in einem Höllenzirkus aus, in dem die Clowns die Herrscher waren. Das war mein schlimmster Albtraum. Ich konnte Clowns nicht ausstehen.
    »Hey«, sagte ich, während ich wieder und wieder meine Wangen rieb, bis Dek und Mal endlich begriffen und sich von meinem Gesicht lösten. Blasse Haut kam unter den schwarzen Schuppen und silbernen Klauen zum Vorschein, und meine grauen Lippen färbten sich rosa. Ich glaube, dass sich die Jungs nur bis zu meinem früheren Haaransatz zurückgezogen hätten, aber ich hatte keine Perücke, keinen Hut und auch keinen Schal. Bis ich etwas fand, um meinen Kopf zu bedecken, mussten die Jungs den Tag unter meiner Kieferpartie aussitzen.
    Ich rieb die Narbe unter meinem Ohr. Ich sah einfach zum Kotzen aus.
    Ich schälte mir meine ruinierten Cowboystiefel von den Füßen, schlüpfte in eine frisch gewaschene Jeans, einen Rollkragenpullover und eine dünne Weste. Ich fand Sportschuhe und Socken und sah, abgesehen von den Schatten unter meinen
Augen und der Tatsache, dass ich keine Haare mehr hatte, fast wieder normal aus.
    Wenigstens hatte ich noch ein paar Reste meiner Augenbrauen. Nicht richtig viele, aber unter diesen Umständen war ich schon über jede Kleinigkeit froh.
    Als Letztes zog ich mir Handschuhe an, hielt meine rechte Hand hoch, drehte sie und untersuchte die Rüstung. Wie ich bereits vermutet hatte, war sie gewachsen, als ich mich aus diesem Zimmer nach unten befördert hatte. Nicht sehr, nur wenige Zentimeter mein Handgelenk hinauf – aber es waren immerhin Zentimeter meiner Haut, die ich niemals wieder zurückbekommen würde.
    »Du kannst mich auch mal …«, sagte ich zu ihr. »Ich hoffe, dass es dafür einen guten Grund gab.«
    Grant hatte aufgehört, Flöte zu spielen. Ich zögerte, als ich das Schlafzimmer verließ. Aber als ich die Tür öffnete, saß er immer noch auf dem Boden. Marys Augen waren geöffnet. Sie lächelte ihn so süß an, dass es fast wehtat, das zu sehen. Sie lächelte mich ebenso an, aber dann entglitt ihr das Lächeln ein wenig.
    Dennoch bedeutete selbst dies sehr viel. Die alte Frau lächelte nicht einfach so für irgendjemanden.
    »Lebendig«, sagte sie und streichelte Grants Hand. »Ein gutes Lied.«
    Sie sah gesund aus. Rosige Haut, helle Augen. Ich hatte den Eindruck, dass ihre Haare etwas weniger grau und einige ihrer Falten geglättet waren.
    »Was hast du gemacht?«, fragte ich Grant.
    »Ich habe ihr das zurückgegeben, was man ihr genommen hatte. Und noch ein bisschen mehr.« Er rieb sich das Gesicht. »Das war knapp.«

    Knapp. Er sah müde aus. Ich lehnte mich zurück und dachte intensiv über das nach, was ich gesehen hatte, was man mir erzählt hatte und an was ich mich erinnerte, um alle Teile zusammenzusetzen.
    Ich hatte Fragen. Darunter war aber nur eine, die nicht

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