Chroniken der Jägerin 3
eigenen Willen hatte. Na wunderbar, dann konnte sie mir gern den Buckel runterrutschen. Ich spielte mit dem Gedanken, mir aus Protest gleich den Arm abzuschneiden.
Ich sah mich um. Grant saß auf dem Boden und zog Mary auf seinen Schoß. Er hatte die Kiefer zusammengebissen, sein Blick war hart, aber inzwischen wusste ich, was dieser Blick zu bedeuten hatte: Ärger, Sorge und Entschlossenheit.
»Sie lebt«, sagte er, ohne aufzuschauen. »So gerade eben noch.«
Ich stand da, dann schwankte ich, setzte mich wieder hin, und zwar ziemlich abrupt. Mein Kopf schmerzte. Es fiel mir schwer zu atmen. Mir war nichts geschehen, ich war unverletzt geblieben, trotzdem fühlte ich mich, als wären einzelne Teile meines Körpers komplett umgekrempelt worden. Mein Verstand inklusive.
Mir schossen Bilder durch den Kopf, als ich Mary und das Apartment betrachtete. Erinnerungen überlagerten die Realität, Lichtblitze, Musikfetzen; ein Klavier, eine Flöte, ein Gefühl, als hielten mich warme Arme umschlungen, während meine Finger einen Song trommeln, der Duft von Popcorn,
das Knirschen von Nägeln, auf denen jemand herumkaute, und die Jungs, wie sie kicherten, während sie einen alten Disney-Film mit Dean Jones ansahen.
Und dieser Duft von Zimt überall um mich herum, in meiner Kleidung, in meinem Haar und auf meiner Haut.
Ich konnte mich an diese Dinge erinnern. Ich hatte sie nicht vergessen. Aber sie so nah auf der Oberfläche meines Geistes zu spüren, das gab mir ein Gefühl von Distanz, als wäre ich fortgenommen worden, irgendwie körperlos. So als lebte ich das Leben einer anderen Frau.
Dann sah ich wieder die Rüstung an und ballte meine Hand zur Faust. Die Frau konnte überall sein, und ohne Hilfe war ich nicht in der Lage zu jagen. Noch war heller Tag. Ich hing fest. Eine richtig lahme Ente war ich. Und die Frau war da draußen – wahrscheinlich ließ sie ihre Stimme gerade bei einer anderen unglücklichen Seele erklingen. Wie viele Leben es wohl kostete, einen gebrochenen Hals zu heilen?
Ich rutschte näher. »Wird Mary durchkommen?«
»Ja«, sagte Grant bestimmt, aber seine Stimme klang so, als meinte er in Wahrheit: Nein, aber ich werde dafür sorgen. Und wenn ich ein Loch in die Hölle reißen muss.
»Wer war diese Frau?«, fuhr Grant fort, schüttelte dann jedoch den Kopf. »Nein, warte. Hol mir zuerst die Flöte.«
»Wo ist sie?«
»Da drüben, beim Fenster.«
Ich schaffte es, aufzustehen und in die Richtung zu wanken, in die er zeigte. Ich sah den Tisch und ein paar Flöten, die meisten von ihnen waren aus Holz, aber eine hatte einen goldenen Schimmer. Es war ein besonders schönes Instrument. Ich hatte das Gefühl, diese müsse es sein, die er haben wollte. Ich nahm sie, drehte mich um und blieb wie angewurzelt stehen.
Die Truhe meiner Mutter stand auf dem Boden neben dem Tisch. Altmodisch – aus massivem Holz. Nichts Besonderes, von ihrem Inhalt einmal abgesehen. Tagebücher, Fotografien, Waffen, all die Kleinigkeiten, die vom Leben meiner Mutter und aus meiner Kindheit übrig geblieben waren. Es war schwer, da nicht hinzuschauen. Ich konnte mich erinnern, wie ich sie durch das Treppenhaus in mein Apartment hinaufgeschleppt hatte. Ich wusste noch, wie ich sie an verschiedenen Stellen platziert hatte, um den richtigen Ort zu finden. Vor meinem inneren Auge konnte ich sehen, wie ich die Bilder herausgenommen und vor mir auf dem Tisch ausgebreitet hatte, wie ich auf das Gesicht meiner Mutter gezeigt und dann gesagt hatte: Du hattest recht. Wir sehen uns absolut ähnlich. Aber das tun wir alle immer .
Ich ging zu Grant zurück. Er summte. Es klang wie eine Melodie aus Schwanensee . Ich reichte ihm die Flöte, aber er ergriff meine Hand, bevor ich sie wegziehen konnte.
»Bist du verletzt?«, fragte er. Da wurde mir schlagartig klar, dass ich nackt war. Niemand… jedenfalls niemand, an den ich mich hätte erinnern können, hatte mich jemals so gesehen. Und ich hätte auch nie gedacht, dass das jemals geschehen könnte. Es war einfach zu viel. Geisteskrank. Dämonen bedeckten meine Haut. Vielleicht sahen sie wie Tattoos aus, aber ich kannte die Realität.
Doch Grant blickte nicht auf meinen Körper. Nur in meine Augen.
»Maxine«, sagte er und drückte meine Hand. »Maxine, antworte mir.«
Ich versuchte mich loszureißen. »Ich kann mich nicht verletzen. Wenn du irgendetwas über mich wüsstest …«
Er beruhigte mich mit einem Kuss auf meine Hand. Es war
zwar nur ein Kuss, aber er war zärtlich
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