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Chroniken der Jägerin 3

Chroniken der Jägerin 3

Titel: Chroniken der Jägerin 3 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Liu
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Zentrum all dieser Emotionen aber befand sich ein tiefes schwarzes Loch der Amnesie, das immer mehr die Gestalt eines ganz bestimmten Mannes annahm.
    Grant. Einen ganz kurzen Augenblick lang war mir, als kenne ich ihn schon länger als erst seit heute Morgen. Kurz flackerten Erinnerungsfetzen auf: wie ich zu ihm lief, als ihm ein Zombie die Waffe ins Gesicht hielt. Oder wie mein Haar sein Gesicht
bedeckte, als wir am Rand des Ozeans standen. Der Klang seiner Stimme, als er sang.
    Dann aber wieder… nichts.
    Die Erinnerungen schwanden wie Truggebilde.
    Die Botin hielt inne und starrte auf Mary und die goldene Scheibe auf ihrer Brust. Von ihren Fingerspitzen tropfte Blut.
    »Nein«, flüsterte sie.
    Mary bleckte die Zähne und streckte ihre blutige Brust hervor. Fast erwartete ich, sie werde sich mit den blutigen Fäusten, die noch immer die Schlachtermesser umklammerten, auf die Brust trommeln.
    »Wir leben noch«, sagte sie und stürzte wieder nach vorn. Die Botin wich nicht zurück. Stattdessen umfasste sie beide Messer mit ihren Händen, wobei die Klingen tief in ihr Fleisch schnitten. Aber das entrang ihr nur einen kurzen Schmerzenslaut.
    »Das ist ja unmöglich«, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Diese Blutlinie wurde doch ausgerottet.«
    Mit dem letzten Wort setzte sie eine furchtbare, niederschmetternde Macht frei. Mir konnte sie zwar nichts anhaben, aber Mary stieß ein zischendes Rasseln aus und warf den Kopf in den Nacken, als litte sie Schmerzen.
    »Wie konntest du dem entkommen?«, fragte die Botin. »Gibt es noch mehr von euch?«
    Noch mehr? Ich brauchte meine Erinnerung gar nicht erst zu bemühen, um zu wissen, dass es wenigstens noch einen anderen gab.
    Grant.
    Mary schrie auf. Ich packte die Botin am Hals, riss ihn zurück und bog ihn mit all meiner Kraft nach hinten. Einen Hals
zu brechen war nicht so leicht, wie es im Fernsehen aussah, aber schließlich hörte ich es doch knacken – die Frau brach zusammen.
    Genauso wie Mary. Ihre Messer schlitterten über den Boden. Die Haut war aschfahl und wächsern, so als sei ihr alles Leben entzogen worden. Ich fühlte ihren Puls. Er war zwar schnell, aber schwach.
    Dann sah ich mich nach der Botin um und erwartete, eine Leiche zu sehen.
    Aber sie war gar nicht tot. Nur gelähmt. Ihre Augen flatterten, und ihr Mund schnappte nach Luft. Das war aber auch alles, was sich bewegte.
    »Es reicht jetzt«, sagte ich. »Aus dieser Welt wirst du niemanden mitnehmen.«
    Sie starrte mich an. Mir war, als würde ich diesen anklagenden Blick in ihren Augen niemals vergessen können, den Vorwurf des Verrats, so als hätte ich irgendeinen heiligen Schwur zwischen uns gebrochen.
    Eine Schöpfung gegen die andere Schöpfung . Frau gegen Frau. So als wären wir Waffenschwestern. Sie hatte erwartet, dass ich auf ihrer Seite wäre. Aber das war nur eine Vermutung gewesen.
    »Du bringst Schande!«, keuchte sie, während aus ihren Augenwinkeln Tränen über ihre Wangen flossen.
    »Nein«, widersprach ich ihr. Gleichzeitig hasste ich mich dafür. »Es gibt hier auf dieser Welt Dinge, die du nicht verstehst.«
    Sie schloss die Augen. »Ich bin die Botin. Ich bin die Stimme unserer Aetar-Meister. Ihr Wille ist Gesetz, und ich bin ihr Werkzeug, das sie aus dem Labyrinth geschickt haben. Das ist alles , was ich wissen muss.«

    »Da irrst du dich«, entgegnete ich, verzichtete aber darauf, noch mehr zu sagen. Ich hörte es vor dem Apartment klacken. Ein Gehstock.
    Im Zusammenhang mit Grant erinnerte ich mich an nichts, was vor diesem Morgen geschehen war, aber ich erinnerte mich an andere seltsame Dinge aus seiner Umgebung . Diese Erinnerungen stellten sich bruchstückhaft und in Schüben ein. Und sie reichten schon aus, um mir ein etwas größeres Bild zu verschaffen. Es war ein verrücktes und zutiefst verstörendes Bild.
    Aber unter keinen Umständen, unter gar keinen Umständen durfte es dieser Frau gestattet werden, ihn zu sehen. Nicht, bevor ich genau verstanden hatte, was hier eigentlich vor sich ging. Und danach auch nicht.
    Ich rannte zur Tür. Aber ich kam zu spät.
    Grant humpelte herein und blieb wie angewurzelt stehen, starrte mich an. Ich erlebte ein Déjà-vu, als hätte sich das Leben bis zu jenem Moment vor der Morgendämmerung zurückgespult, als ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Sein Gesichtsausdruck war derselbe wie damals, besorgt, erschöpft und ziemlich aufgewühlt. Ruß bedeckte seine Wangen und seine Kleidung. Nass vom Regen klebte

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