Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
wenn du gehen musst, kann man wohl nichts machen.«
»Ich werde hierbleiben«, sagte Will leicht indigniert und warf sich in den Sessel, den Tessa gerade freigegeben hatte. »Ich kann mich barmherzig und engelhaft um dich kümmern.«
»Nicht sehr überzeugend. Außerdem bietest du keinen solch hübschen Anblick wie Tessa«, entgegnete Jem, schloss die Augen und ließ sich in die Kissen sinken.
»Wie grob von dir. Viele, die das Glück besaßen, einen Blick auf mich werfen zu dürfen, verglichen dieses Erlebnis mit einem Blick hinauf zur strahlenden Sonne.«
Die Augen immer noch geschlossen, schnaubte Jem: »Falls sie damit meinten, dass man davon Kopfschmerzen bekommt, kann ich ihnen nur zustimmen.«
»Außerdem«, fuhr Will unbeirrt fort und schaute zu Tessa, »wäre es nicht anständig, Tessa noch länger von ihrem Bruder fernzuhalten. Sie hat den ganzen Tag kaum Gelegenheit gehabt, nach ihm zu sehen.«
»Das ist wahr.« Jem öffnete kurz die Augen, die vor Müdigkeit dunkelsilbern wirkten. »Ich muss dich um Verzeihung bitten, Tessa. Deinen Bruder hätte ich fast vergessen.«
Tessa schwieg betreten - Jem war nicht der Einzige, der ihren Bruder fast vergessen hätte. Ist schon in Ordnung, wollte sie erwidern, doch Jems Lider waren wieder zugefallen und sie nahm an, dass er möglicherweise bereits schlief. Während sie ihn betrachtete, beugte Will sich vor und zog seinem Freund die Bettdecke bis über die Brust.
Schweigend machte Tessa auf dem Absatz kehrt und verließ leise das Zimmer. Die Lichter im Flur brannten auf kleinster Stufe - oder vielleicht war es in Jems Zimmer einfach nur heller gewesen. Blinzelnd stand sie einen Moment da, doch als sich ihre Augen an die Dämmerung gewöhnt hatten, zuckte sie erschrocken zusammen. »Sophie?«, fragte sie verwundert.
Das Hausmädchen wirkte wie eine Aneinanderreihung heller Flecken in der Dunkelheit - man erkannte nur ihr blasses Gesicht und die weiße Haube, die an einem der Bänder knapp über dem Boden baumelte.
»Sophie, ist irgendetwas passiert?«, hakte Tessa nach.
»Geht es ihm gut?«, fragte Sophie mit angespannter Stimme. »Wird er wieder gesund?«
Tessa war zu verwirrt, um ihre Frage zu begreifen, und erwiderte lediglich: »Wer?«
Mit einem flehentlichen, fast tragischen Ausdruck in den Augen sah Sophie sie an. »Jem.«
Nicht »der junge Herr« oder Mr Carstairs, sondern Jem. Vollkommen verblüfft musterte Tessa das Mädchen und erinnerte sich plötzlich wieder an ihre Worte: »Es ist rechtens, jemanden zu lieben, der diese Liebe nicht erwidert - sofern derjenige es auch wert ist, dass man ihn liebt. Sofern er es verdient, geliebt zu werden.«
Natürlich, dachte Tessa. Ich bin ja so dumm! Ich hätte wissen müssen, dass sie in Jem verliebt ist. »Es geht ihm gut«, sagte sie so sanft wie möglich. »Er schläft jetzt, aber vorhin hat er aufrecht im Bett gesessen und sich mit mir unterhalten. Ich bin mir sicher, dass er sich rasch wieder erholen wird. Möchtest du ihn vielleicht sehen ...«
»Nein!«, stieß Sophie sofort hervor. »Nein, das wäre nicht rechtens oder angemessen.« Ihre Augen funkelten. »Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet, Miss. Ich ... ich ...«, stammelte sie, wirbelte dann herum und eilte davon.
Tessa schaute ihr nach, bestürzt und verwirrt. Wie konnte es nur sein, dass sie es nicht eher bemerkt hatte? Wie konnte sie nur so blind gewesen sein? Wie seltsam, dass sie die Fähigkeit besaß, sich buchstäblich in andere Menschen zu verwandeln, und gleichzeitig so wenig fähig schien, sich in sie hineinzuversetzen.
Die Tür zu Nates Zimmer stand einen Spalt offen. Leise drückte Tessa sie weiter auf und spähte hinein.
Ihr Bruder lag unter einem Berg von Decken. Das Licht der flackernden Kerze auf seinem Nachttisch fiel auf seine hellen Haare, die über das Kopfkissen gebreitet waren. Er hatte die Augen geschlossen und seine Brust hob und senkte sich regelmäßig.
Im Sessel neben seinem Bett saß Jessamine. Auch sie war offenbar eingeschlafen. Mehrere blonde, lockige Strähnen hatten sich aus ihrem sorgfältig frisierten Haarknoten gelöst und hingen ihr bis auf die Schultern hinab. Irgendjemand hatte eine schwere Wolldecke über sie geworfen, die sie bis zur Brust hochgezogen hatte und im Schlaf mit beiden Händen umklammert hielt. Jessamine wirkte deutlich jünger als sonst - jünger und verwundbarer. Nichts an ihr erinnerte noch an das Mädchen im Park, das den Kobold niedergemetzelt hatte.
Es war seltsam, welche
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