Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
zurückgekehrt war. Dennoch wirkten sie in seinem bleichen Gesicht wie tiefe dunkle Höhlen. »Tessa«, brachte er angestrengt hervor, »es tut mir so leid.«
Fragend schaute Tessa zu Will; sie war sich selbst nicht sicher, ob sie damit um seine Erlaubnis oder seine Hilfe bat. Doch er schaute stur geradeaus - ganz offensichtlich wollte er ihr nicht helfen. Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, eilte Tessa durch das Zimmer und ließ sich in einem Sessel neben Jems Bett nieder. »Jem«, sagte sie mit gedämpfter Stimme, »es gibt nichts, was dir leidtun oder wofür du dich schämen müsstest. Ich sollte mich eigentlich bei dir entschuldigen. Du hast überhaupt nichts falsch gemacht. Diese Klockwerk-Kreaturen hatten es auf mich abgesehen, nicht auf dich.« Sanft strich sie über die Bettdecke - wie gern hätte sie seine Hand berührt, wagte es aber nicht. »Wenn ich nicht gewesen wäre, hättest du niemals derartig verwundet werden können.«
»Verwundet«, stieß Jem keuchend, fast angewidert hervor. »Ich war nicht verwundet.«
»James.« Wills Stimme enthielt einen warnenden Unterton.
»Sie muss es erfahren, William. Sonst denkt sie noch, dass das alles ihre Schuld gewesen sei.«
»Du warst krank«, widersprach Will, ohne Tessa dabei anzusehen. »Daran trägt niemand die Schuld.« Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: »Ich denke einfach nur, dass du vorsichtig sein solltest. Du bist noch immer nicht wohlauf. Reden würde dich bestimmt zusätzlich erschöpfen.«
»Es gibt Wichtigeres, als Vorsicht walten zu lassen.« Mühsam setzte Jem sich auf, wobei die Muskeln und Sehnen an seinem Hals deutlich hervortraten, und schob sich ein Kissen in den Rücken. Als er sich wieder an Will wandte, klang seine Stimme leicht atemlos: »Wenn dir das nicht gefällt, Will, dann musst du nicht hierbleiben.«
Im nächsten Moment hörte Tessa, wie die Tür geöffnet und dann mit einem leisen Klick ins Schloss gezogen wurde. Sie brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass Will hinausgegangen war. Fast gegen ihren Willen spürte sie einen Stich der Enttäuschung - wie jedes Mal, wenn er einen Raum verließ.
Jem seufzte. »Er ist ja so starrköpfig.«
»Aber er hat recht«, warf Tessa ein. »Zumindest im Hinblick darauf, dass du mir nichts erzählen musst, was du nicht wirklich willst. Ich weiß ohnehin, dass es nicht deine Schuld war.«
»Hier geht es nicht um Schuld oder Unschuld«, erwiderte Jem. »Ich bin nur der Ansicht, dass du die Wahrheit erfahren solltest. Etwas zu verheimlichen, hilft nur in den seltensten Fällen weiter«, sagte er und schaute einen kurzen Moment zur Tür, als wären seine Worte für seinen abwesenden Freund bestimmt. Dann seufzte er erneut und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Du weißt doch, dass ich den Großteil meines Lebens in Shanghai gelebt habe, zusammen mit meinen Eltern? Und dass ich im dortigen Institut aufgewachsen bin, oder?«
»Ja«, bestätigte Tessa und fragte sich, ob er vielleicht noch immer ein wenig benommen war. »Das hast du mir erzählt, auf der Brücke. Und du hast mir auch erzählt, dass ein Dämon deine Eltern getötet hat.«
»Yanluo«, stieß Jem hasserfüllt hervor. »Der Dämon hegte einen starken Groll gegen meine Mutter: Sie war für den Tod einer ganzen Reihe seiner Nachkommen verantwortlich. Ihre Brutstätte befand sich in einer kleinen Stadt namens Lijiang, wo sie sich von den Kindern des Ortes ernährten. Meine Mutter räucherte das Nest aus und floh, bevor der Dämon sie fand. Yanluo wartete viele Jahre auf den Augenblick der Rache - Dämonenfürsten sind unsterblich -, aber er verlor sein Ziel keinen Moment aus den Augen«, erzählte Jem, hielt einen Moment inne und fuhr dann mit tonloser Stimme fort: »Als ich gerade elf geworden war, entdeckte Yanluo eine Schwachstelle im Schutzschild, der das Institut umgab, und grub einen Tunnel in das Gebäude. Er tötete sämtliche Wachen, nahm meine Familie als Geiseln und fesselte uns an die Stühle im großen Saal des Hauses. Und dann machte er sich ans Werk: Yanluo folterte mich vor den Augen meiner Eltern.
Wieder und wieder injizierte er mir ein brennendes Dämonengift, das meine Adern versengte und mir fast den Verstand raubte. Zwei ganze Tage lang wechselte ich zwischen Bewusstsein und Halluzinationen und Albträumen. Ich sah die Welt in Strömen von Blut ertrinken und ich hörte die Schreie der Sterbenden und Toten seit Anbeginn aller Tage. Ich sah London in Flammen aufgehen und
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